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Zur Bildung einer „höheren poetischen Theorie“ auf den Ionischen Inseln: Eine Wirkungsgeschichte des „Germanismus“ im neugriechischen 19. Jahrhundert

Dr. Angela Gioti

Die Aufgabe der literaturhistorischen Annäherung besteht darin, die Literaturkritik auf den Ionischen Inseln vor dem Hintergrund vielschichtiger Transferprozesse zu untersuchen. Die zentrale Fragestellung ergibt sich daraus, dass 1. Kritik, im Sinne der an Romantik und Idealismus orientierten Denkform, sich durch den Transfer ihrer grundlegenden Konzepte im griechischsprachigen Raum zum ersten Mal auf den Ionischen Inseln im Zusammenhang mit dem grundlegendem Wandel im 19. Jh. entwickelte, und dass 2. die in dieser Zeit aufblühende Produktion literarischer, v. a. dichterischer Werke von Anfang an durch eine sich auch darüber formierende Öffentlichkeit begleitet wurde, die im griechischsprachigen Raum bis dahin nicht vorhanden war und ihrerseits durch die Tätigkeit philosophisch-ästhetisch gebildeter Literaten geprägt wurde. Die Ausrichtung an romantisch-idealistischen Vorbildern kritischer Reflexion in Auseinandersetzung mit der italienisch geprägten kulturellen Tradition führte zur Bildung eines ästhetischen Bewusstseins, in dem ein Verständnis Griechenlands als modernes Gebilde eingeschrieben war.

Die von den ionischen Kritikern angestrebte „höhere poetische Theorie“ hat unter dem Vorzeichen von Fr. Schlegels Konzept der Kritik als gleich ursprünglich mit der Literatur und als Werk in der zweiten Potenz gestanden. In den Schreibwerkstätten der ionischen Kritiker werden die Keime dafür gelegt, was als eine frühe Theorie der Literatur im neugriechischen Raum gehalten werden kann. Angesichts etwa der in ihm damals brennenden Frage der Positionierung zur literarischen Tradition, v.a. der klassischen Antike, könnte keine Position ferner zum Athener Ahnenkult bayerischer Prägung liegen als die ionische. Denn letztere nahm in Anspruch, die neueren Entwicklungen in den griechischsprachigen literarischen Formen als Episode der Querelle des anciens et des modernes zu fassen. Insofern werden die neugriechische Kultur und ihre Manifestationen von vornherein als eine mögliche Gestalt der gesamteuropäischen Modernität verstanden, mit welcher der Anschluss gesucht wurde, statt jene als letzte Etappe einer kontinuierlichen griechischen Geistesgeschichte etablieren zu wollen. Dass sich das dreigliedrige Schema der Kontinuität neugriechischer Geschichte von der Antike übers Byzanz in den Nationalstaat ab der zweiten Hälfte des 19. Jh. durchsetzte, hatte auch zur Folge, das Spezifische der ionischen kritischen Diskurse zu nivellieren bzw. ihre inhaltlichen Analysen und interpretatorischen Vorgaben im Geflecht neugriechischer Geistesgeschichte einzuordnen, ohne sie als eigenständige Produktion zu profilieren.