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#Lesestoff

04.11.2014

#Lesestoff
Vyron Leontaris (1932-2014)

Vyron Leontaris (1932-2014)

Aus Anlass des Todes von Vyron Leontaris am 6. August 2014 präsentiert das Centrum Modernes Griechenland den Dichter anhand eines einführenden Essays (Dr. Angela Gioti) und einer von ihm selbst getroffenen Gedichtauswahl in der Übersetzung von Anna Lazaridou.



Vyron Leontaris (1932-2014)

Vyron Leontaris (1932-2014) war einer der bedeutendsten griechischen Dichter der Nachkriegszeit. Geboren in Nigrita (Makedonien) als jüngerer Bruder des Literaturkritikers Manolis Lambridis und des Dichters Andreas Leontaris, verbrachte er die ersten Jahre seines Lebens auf Samos, von wo seine Familie stammte. Seit 1939 lebte er in Athen. Sein politisches Denken und seine intellektuelle Ausrichtung wurden von früh an durch seine Eingliederung in die Linke bestimmt. Die synthetische, undogmatische und gegen jeglichen Fanatismus gerichtete Bewegung seines Denkens jedoch erlaubte ihm die Ausbildung eines vollkommen persönlichen poetischen Ausdrucks.

Seinen ersten Auftritt in der griechischen Literatur hatte er 1954, noch während des Jurastudiums, mit dem Gedichtband Γενική αίσθηση (Allgemeines Gefühl). Es folgten die Bände Ορθοστασία (Stehen) (1957), Η ομίχλη του μεσημεριού (Der Mittagsnebel) (1959), Ανασύνδεση (Wiederanschluss) (1962) und Ψυχοστασία (Psychostasie) (1972). Während dieser ersten poetischen Schaffensphase tat sich Leontaris auch schon als Essayist hervor, zunächst als Mitarbeiter der Zeitschriften Epitheorisi Technis, Kritiki und Efimerida ton Poiiton, dann als Mitherausgeber der Zeitschriften Martyries (1962-1966) und Simeioseis (seit 1973).

Die Essays von Leontaris ergänzen das Profil eines Intellektuellen, der – trotz seiner Absicht im Verborgenen zu bleiben – durch seine kühnen Gedanken einen entscheidenden Beitrag dazu leistete, wie wir heute die griechische Dichtung der Nachkriegszeit (Η ποίηση της ήττας Die Poesie der Niederlage, 1963) und die Dichtung von Kostas Karyotakis (Θέσεις για τον Καρυωτάκη / Thesen zu Karyotakis, 1973) lesen. Schließlich muss auch sein Beitrag zur Lektüre und Rezeption anderer bedeutender Bereiche der neugriechischen Dichtung gewürdigt werden – ein Sammelband seiner Essays erschien 2001 unter dem Titel Κείμενα για την ποίηση (Texte zur Dichtung).

Seine Laufbahn als Dichter setzte er mit den Bänden Μόνον διά της λύπης (Nur durch die Trauer) (1976), Εκ περάτων (Von den äußersten Grenzen) (1986) und Εν γη αλμυρά (In einem salzigen Land) (1996) fort, in denen die Beziehung zwischen dem Dichter und den Dichter über den Dialog mit wichtigen Stellen der Bibel (Jeremias) und dem Werk bedeutender Denker (Kierkegaard) ins Bild gesetzt wird. Letztgenanntes Werk führte durch die Verleihung des Nationalen Poesiepreises 1997 auch zur öffentlichen Anerkennung des lyrischen Werkes von Leontaris. Mit dem Band Έως (Bis) (2003) fand dieses einen konsequenten Abschluss. Der Band Ψυχοστασία. Ποιήματα 1949-1976 (Psychostasia. Gedichte 1949-1976), der die Gedichte der ersten Schaffensphase vereinte, erschien 2006 in der zweiten Auflage.

Aus Anlass seines Todes am 6. August 2014 präsentiert das Centrum Modernes Griechenland den Dichter anhand einer von ihm selbst getroffenen Auswahl in der Übersetzung von Anna Lazaridou.

Dr. Angela Gioti



Gedichte



Vyron liest seine Gedichte (Quelle: YouTube, Christos Koukis für Poeticanet, 2014)

II

Ich ging bei Rot schon über die Kreuzung los
Alles schrie: Verstoß, Verstoß

Sie prüften meine Papiere, mein Blut
Tatsächlich war ich selbst meine Schuld

Erdrückende Anklagen wogen schwer auf mir
Gebrochene Zeiten sagten gegen mich aus – jetzt und hier

Ich saugte meinen unschuldigen Eltern das Blut aus den Adern
In meinen Träumen beging ich wiederholt blutige Schanden

An jedem Morgen musste ich eine stockfinstere Treppe hinauf
Um mich herum geschlachtete Hähne zuhauf

Ich ignorierte die Anzeigen der Ampelschaltung
der Verkehrspolizei, des Gehirns und der Dichtung

Ich fülle den Lottoschein nicht aus
Halte immer Masken aus meinem Gesicht raus

Erlösung habe ich in der Revolte vom Mai gesucht
Von Madame Rouvier werde ich immer noch verflucht

Ich mache die Nächte durch mit einem Satz Tarotkarten
Tavli habe ich im Thision gespielt gegen den Minotauren

„Am Strand, dem versteckten … usw.“ steckt meine Seele fest
Mein ganzes Leben ein einziges Palimpsest

Ich bin meine verlorenen Wetten schuldig geblieben
Ich habe schon lange keine schönen Gedichte mehr geschrieben

Ich schlug meine Liebe in Stücke
die ich eingerahmt an den Zimmerwänden zurechtrücke

Dem Gericht gebe ich  keine Auskunft zu meiner Person
Erhebe hartnäckig den Einspruch der Ungültigkeit schon

Meiner selbst aber auch die meiner Zeit
Nicht mal meinen letzten Willen halte ich bereit …

Ah, dass das endet, all dies soll enden
Nachtigallen und Telefone und Einsatzwägen

Hinter Pulsschlägen, Türen und Augen
Schießen auf mich die Ampelanlagen


III

Mein Freund, du kommst wie eine „Stunde ohne Namen …“. Die Zeit hasst dich nicht; es scheint, dass auch du ihr nichts Böses getan hast, im Gegensatz zu mir, der sie gedrängt hat und sie zwingen wollte, zur Geschichte zu werden.

Du hast den Luxus deiner Kunst bewahrt, deinen Glauben an unbestimmte Visionen und unerreichbare Versprechen, immer elegant innerhalb  deiner Ideologie… Was meine Kunst angeht, uralt wie deine, ist sie zur reinen Technik verkommen. Heutzutage gibt es die alten Talente nicht mehr, mit den Meerjungfrauen und Dämonen auf den Oberarmen, Amuletten an der Brust, Kniefällen und Nachtlichtern… Und doch, vielleicht wussten gerade sie Bescheid –

Es gibt eine Raumkrise in der Seele, sie ist inzwischen voller Maschinen, es passen keine Erinnerungen und keine Gewissensbisse mehr hinein. Nur manchmal, wenn der Aufzug defekt ist, ersticke ich auf der Treppe – die See, die ich als Kind so sehr begehrt habe, und die bronzefarbenen Haare einer Frau, die mich irgendwann tödlich gehasst hat… Und doch, vielleicht wussten gerade sie Bescheid –

Warum hält der Körper diese Qual aus? Warum akzeptiert er dieses Kräftemessen und stürzt sich nicht gleich auf den Hals des Henkers, um ihn zu zerreißen oder ein für alle Mal zu vergehen, warum akzeptiert er diese finstere, bodenlose Beziehung? Warum wird die Natur zur Geschichte?

Gib du mir also eine Erklärung. Oder verrichtest du etwa mit der Dichtung nicht dieselbe Arbeit wie ich… Zerfetzt du nicht auch das Innerste der Menschen, Seelenhenker? Wie dem auch sei. Setz dich doch noch auf ein Glas hin, schau dir meine Plattensammlung an und die Bücher. Und danach erzähl mir, falls du selbst es weißt und falls es noch irgendeine Bedeutung hat… Übrigens: Wolltest du eigentlich die Genehmigung für eine Beerdigung oder für eine Auferstehung?


I

Zeitrisse
von Leib zu Leib – was für eine Fortsetzung gibt es da schon
Liebkosungsgespenster
Leere Hüllen aus Stimmen Gesten und Taten
Hüften
Brüste – bis zur Neige ausgequetscht
um neue Seelen auszukleiden
Und der Erzengelflügel an die Haustür gelehnt
Wer hat schon jemals seine Mutter
als Mädchen kennengelernt

Zeitrisse
die spukenden Zwischenräume in der Nachfolge
der kaputte Wirbel und die zerborstene Stufe der Treppe
Was soll ich mit meinen Erinnerungen
Was soll ich mit meinen Wurzeln
wenn meine Blätter  in der Erde schon verwest

Das Fleisch martert das Fleisch
Und der Geist bestraft sich ewig selbst in seiner Einsamkeit
Unser Leben fließt dahin mit  Zaubersprüchen  und  Beschwörungen
mit all unseren alltäglichen kleinen Menschenopfern
Doch das Öl im Nachtlicht ist jetzt herabgesunken
und das Wasser an die Oberfläche gelangt
Und die Flamme zieht mit Gebrüll davon
den Vater und den Sohne beißend

Was soll ich mit meinen Wurzeln
Wenn meine Wurzeln am Himmel enthauptet werden
Und die wilde Erde vorwärts dringt und
Missolongi immer enger umringt

Worauf warten wir
Auf Wind in den Segeln eines neuen Geschicks
Ein unangetasteter Harnisch am Ende des Strands
während wir unsere Seele unter Wölfen und Hunden aufteilen
Während wir auf dem Scheiterhaufen Iphigenie die Troer und Agos Vassiaris schlachten

Regen giftiger Regen
als deine Überreste, Marko, vorbeiziehen
Aufrecht festgebunden auf deinem Pferd
und es folgen Popen und Kantoren
Weihrauchgeschwenke  Pestilenzen Untergänge
und dahinter gefangene Feinde an den Ellbogen gefesselt
seidene besiegte Fahnen
über und über geschmückte Pferde
Kampfwagen und Schwerter Gewehre Ziegen und Schafe
Beutegut eines Kampfes der stecken bleibt und sich verfängt
In Mooren und Binsen- und Röhrichtgeflecht

Regen giftiger Regen
Freiheit oder Tod…

Lieber der Tod lieber der tot


III

Unter dem aufgerissenen Pflaster lag nicht der Strand
Teer Rost und Erde und alte Elektrokabel
Ein Aufgewühle, wie wenn die Toten auf den Bauch kippen
Gerissene Telefonkabel die einst erzitterten
in der sinnlichen Umarmung zweier verzweifelter Zahlen inmitten
              der Nacht
Ich weiß, du möchtest sterben, weil du es nicht erträgst, zu lieben
Baumwurzeln abgeholzter Alleen
zur Erweiterung der Straße, der nimmer satten Madonna mit dem Kinde
und der Nachklang von Schritten, die sich entfernen – denn Schritte
              die sich nähern gab es nie
und das dumpfe Plumpsen eines Schattens, der aus unseren Augen sprang
              als wir Feuer fingen
das von unseren Überresten ausgetreten ward

Unter dem aufgerissenen Pflaster lag nicht der Strand
Unter dem Pflaster lag nicht –
Deswegen sind wir so traurig
ihr, die ihr den Tod fandet
und ich, der ihn verlor


IV

Ah, Jaguar mit der warmen Schnauze…
Schmeißt mich auf Zweige und Dornen mitten auf die Verkehrsinsel der Straße
Der Himmel über uns – ein aufgeplatzter Granatapfel
und um uns herum, hell erleuchtet,  umschiffen uns die steinernen Schiffe

Um Mitternacht ließ dich deine Herrin aus dem Käfig
und goss sich nackt haltlos in den Traum
sie suchte mich ich suchte sie wie das Schicksal
wer weiß welche Liebe, welchen uralten Mord dabei herbeisehnend – Zweige
             und Dornen…
ein Raunen bin ich, Meeresrauschen inmitten dieser Welt, die sich auflöst
Über uns der Himmel – ein aufgeplatzter Granatapfel
Und drum herum, hell erleuchtet, umschiffen uns die steinernen Schiffe

Was wird aus uns auf dieser Insel
Rettungsinsel, Insel des Untergangs
Ort des Zögerns und der Selbstbindung
Nicht mal Ort
Stelle
Satz- und Kennzeichen des Archipels der Straße
Stelle des nein, des nicht, der sie kommen nie durch,
trockenen Fußes durch das Meer,
auch wenn das Wasser sich spaltet
und die Wellen sich erheben
und eine Wasserwand sich rechts und links
Ausgang Sackgasse
Die Rettung ist die Erlösung der Seelen nicht der Körper

Was wird aus uns Ausgesperrten hier
Die wir uns Schuld und Reue teilen

Wie sollen wir einen ganzen Tod überstehen?


Und jählings

Und jählings schien es als fehlten wir überall und uns fehlte
alles
Und wir traten in die äußere Nacht
der eine brachte den andern auf den Weg
mit diesen wenigen Schritten deren wir in der Einsamkeit fähig sind
all jener die uns alleine lassen 

Wir blieben dort abwesend und ohne uns zu trennen
mit unseren Gläsern in der Hand
ein hängender Lüster der kaum die Erde berührt
kristallene Blätter die tönen und flackern
tropften Wein auf die Erde
und riefen unsere Seelen herbei

An einem Kreuzweg ohne Wege
habt ihr uns verloren haben wir euch verloren
über uns wiegt sich der Himmelsflügel leise im Wind

Nach welcher Seite hin hängt das Unrecht tiefer?
Anders werden die Sünden der Seele und anders die Sünden des Leibes
gewogen
wie auch immer wir die Reue unter uns aufteilen, wir kommen nicht zur Ruhe

Seitdem das Chaos geteilt wurde sind wir von Trennung bestimmt
Sind wir verfluchte Einsamkeiten
Die Entstehung ist die Schandtat
Körper schön und traurig
fragtet ihr, ob die Seelen sterben. Nur sie sterben

Eine Zierde für euch die Traurigkeit
doch die Seelen trauern bis in den Tod hinein
Bis … An diesem Bis hängen auch wir kaum die Erde
berührend
an einem Kreuzweg ohne Wege
in einem Delirium der Trauer wirbelnd verspinnen wir
rote Fäden und schwarze für eine von jeher verlorene
Zukunft

Ich habe keine Orakel und keine Visionen gewollt, ich wünschte mir
dass das Trauerspiel nicht mehr dargestellt würde. Sondern vollzogen.
Dass die Gesichter aus ihrer Gestalt träten
dass die Worte aus ihrem Klang träten, in Fleisch und Blut
und zu mir kämen, um mir zu begegnen … Doch sie kamen nicht.

Auf der Liste für die Seelenmessen war mein Name durchgestrichen
Das Blatt, das mir vor die Füße fiel … Ich hob es auf und
gab es dem Baum zurück
Doch der nahm es nicht.


Der Tote vom Bildschirm

So wie er zusammenklappte bei seinem finalen Sturz
Klammerte er sich an den Bildschirm, der dann auch noch auf ihn drauffiel
ein Mantel der durchlöcherten Finsternis.
Wir eilten hin, hoben ihn auf und schlüpften heimlich durch den Notausgang
Von überall her zog es Schluchzen
die Nacht in Athen schäumte Liedertrümmer und faulige Lichter aus
und die Treppe ein Brunnenschacht ins Nichts.

Der Abstieg ganz Torkeln und Kurven.
Der Himmel stürzte auf uns herab, um ihn uns zu entreißen
und unter uns rasten und tobten unterirdische Geister
jede Stufe hob und senkte sich mit uns wie eine Welle
– und die Treppe führte empor? oder herab? –
doch wir hielten gut durch
alte Meister der Zunft
der Manövrierer in Häfen und auf Bahngleisen
Rangierer von Abfahrten und Ankünften
von großen Sorgen und tiefer Trauer
Träger der Unerträglichkeiten und Unermesslichkeiten dieser Welt.

… Hochmütig, steinern in seiner Bitterkeit
eine weiße Koralle der getrocknete Schaum auf seinen Lippen
das Meer schon längst aus seinem Blick entwichen
sein ganzer Körper leuchtet phosphoreszierend
kodierte Zeichen, jenseitige Botschaften in der Nacht.

Nein, wir würden ihn doch nicht dem Jammer des Publikums ausliefern
der Gnade von ambulanten Kritikern und streifenden Journalisten
zur Leuterung durch Leiden …
Lass‘ sie sich wundern, die herausragenden Zuschauer im Saal
Wenn die Lichter angehen und die Seelen gekalkt werden.
weiter reicht das Mitgefühl nicht.
Ihr habt uns in der Kunst eingesetzt, meine Herren, und uns verspielt.

… Und so wankten wir, Arm in Arm, uneingeladen
in die Poetry Bar.

Cognac! … und erzähl‘ mir nichts von wegen „Wir machen zu“, alte Schlampe du
Ein Glas auch für unsren Freund hier … Und Finger weg vom Alarm.
Jetzt wirst du mal sehen, was sich zu Tode saufen heißt.
Wir sind keine Gedichte zum Aufsagen und Verkaufen, sondern zur Selbstverbrennung.

Jeden Morgen lassen sie unsere Asche verschwinden.

Übersetzung: Anna Lazaridou