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11.01.2016

Die Überlebenden. Widerstand, Deportation, Rückkehr. Juden aus Thessaloniki in den 1940er Jahren

Das Buch von Rika Benveniste Die Überlebenden. Widerstand, Deportation, Rückkehr. Juden aus Thessaloniki in den 1940er Jahren, das im Frühjahr 2016 bei der Edition Romiosini erscheinen ist, ist nicht bloß ein wesentlicher Beitrag zur Geschichte der griechischen Juden. Die Erzählung fokussiert auf Einzelschicksale und bewegt sich auf lokaler Ebene, statt ein landes- oder gar europaweites Panorama zu erfassen und allgemeingültige Ergebnisse zu präsentieren; Geschichten und Schicksale einzelner Personen oder kleineren Gruppen werden durch Zeitzeugenaussagen, persönliche Briefe und offizielle Schreiben in einem lebhaften Erzählstil vergegenwärtigt. Auf diese Weise spielt das Buch vielfach mit dem Genre der belletristischen Prosa, und gerade die geschichtswissenschaftliche und literaturästhetische Mischung gibt diesem Buch einen besonderen Ton.
Übrigens: Die Edition Romiosini hat in diesem Zusammenhang auch das Buch Jüdische Orte in Thessaloniki: ein historischer Rundgang von Rena Molho und Vilma Hastaoglou-Martinidis, das bei dem Romiosini-Verlag erschienen war, überarbeitet und neu aufgelegt.
Als Vorgeschmack auf die deutschsprachige Publikation möchten wir an dieser Stelle einen Auszug aus dem Anfang des dritten Teils des Buches von Rika Benveniste in der Übersetzung von Dennis Püllmann präsentieren.

Rika Benveniste: „Ma chère Valika“. Thessaloniki – Bergen-Belsen – Thessaloniki. Auszug

1. Valerie und Beniko

Valerie, Tochter von Sarah und Mair Tsenio, wurde 1905 oder 1906 in Thessaloniki geboren. Mit Stolz pflegte die Familie Tsenio die etwas verworrene Erinnerung an ihre in weiter Ferne zurückliegende vornehme Abstammung von conversos aus Aragonien. Valerie verlor im Krieg ihre Mutter Sarah und fünf Geschwister: Albert, Peppo, Moise, Oskar und Retzina, eine Halbschwester aus der ersten Ehe des 1928 verstorbenen Vaters. Sie alle wurden zusammen mit ihren Familien aus Thessaloniki nach Polen deportiert und in Auschwitz-Birkenau ermordet. Außerdem verlor Valerie ihren Mann Beniko Saltiel. Sie selbst kehrte aus Deutschland und dem Lager Bergen-Belsen mit ihren drei Kindern Zizi, Nina und Dario nach Thessaloniki zurück. Auch ihre ältere Schwester Nella überlebte den Krieg, zunächst aufgrund des Schutzes, den ihr ein italienischer Pass gewährte, später dank einiger Freunde, die ihrer Familie einen Unterschlupf in Athen boten. Die Tsenios waren eine wohlhabende Familie. Valeries Brüder hatten das Unternehmen des Vaters geerbt, ein großes Geschäft für Herrenbekleidung in der Odos Ermou. Der Älteste von ihnen, Albert Tsenio, war auch politisch aktiv: Nach den Wahlen von 1934 wurde er Schatzmeister der Industrie- und Handelskammer, und 1936 zog er für die Allgemeine Radikale Volksunion (Geniki Laiki Rizospastiki Enosis) in das Parlament ein. Er war Funktionär der Gemeindestiftung zur Versorgung der Bedürftigen, Ehrenvorsitzender der Makkabi und stellvertretender Vorsitzender des letzten gewählten Vorstandes der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki.

Mit gerade einmal zwanzig Jahren heiratete Valerie den sieben Jahre älteren Beniko Saltiel, Sohn des Semtov. Die Familie Saltiel unterhielt ein florierendes Holzhandelsunternehmen, das durch den Großvater Moise begründet worden war. Valerie und Beniko bekamen vier Kinder, das Dritte von ihnen, die kleine Marcella, erlag einer jener Krankheiten, die zu jener Zeit häufig die kleinen Kinder befielen. 1933 sollte die Geburt eines Jungen Valerie und Beniko ein wenig über den Verlust hinwegtrösten. Auch Beniko Saltiel war ein aktives Mitglied der Handelskammer, und wie viele wohlhabende Juden Thessalonikis widmete auch er einen Großteil seiner Zeit den Wohlfahrtkomitees der bevölkerungsreichen Gemeinde, zu der auch zahlreiche Bedürftige zählten. Beniko hatte zwei Brüder, Moise und Albert, die gemeinsam mit ihm im Familienunternehmen arbeiteten, sowie drei Schwestern, die allesamt bereits verheiratet waren: Emma, Olga und Elda. Letztere lebte mit ihrem Mann und ihren Töchtern in Belgrad. Nur Moise und Elda sollten den Krieg überleben.

Valerie und Beniko Saltiel lebten mit ihren Kindern ein komfortables Leben in einem hübschen zweigeschossigen Wohnhaus am Boulevard Vassilissis Olgas im Exochon-Viertel, umgeben vom weiteren Kreis ihrer vielköpfigen Familie, jüdischen wie auch christlichen Freunden und gesellschaftlichen Bekanntschaften. Ihre Kinder genossen eine gute Ausbildung und eine mal strenge, mal sanftere Erziehung, wie sie in den  bürgerlichen Familien zu jener Zeit üblich war. Die Eltern hielten die Kinder von den Diskussionen und Problemen der Erwachsenen fern. Diese reichen Kinder reiften mit Verspätung heran und wurden so zuweilen sehr abrupt aus der Welt ihrer kindlichen Unartigkeiten gerissen: Sorgen bezüglich der Strafe wegen zu vieler Süßigkeiten, eines verbotenen Bades im Meer oder dem „ungehörigen Betragen“ gegenüber dem Klavierlehrer… Als der Krieg ausbrach, stand die auf die Vierzig zugehende Valerie noch immer unter dem „Schutz“ ihres Mannes und ihrer Brüder, war die Herrin über einen großen Haushalt und verantwortlich für die Kinder sowie sämtliche familiären und gesellschaftlichen Verpflichtungen. Sie pflegte ein elegantes Auftreten und schätzte die Kultivierung des Geistes nach dem Vorbild der französischen Erziehung, die sie selbst genossen hatte. Wie in den meisten bürgerlichen jüdischen Häusern  wechselte sich zu Hause das Judenspanische mit dem Französischen ab.

2. In Athen: März bis Juli 1941

Vom März 1941 bis zum Juli des gleichen Jahres richtet Beniko acht Briefe an seine „liebe Valika“ (durch diese Endung wird der Name Valerie im Spanischen zum Kosenamen), die mit den drei Kindern auf unbestimmte Zeit nach Athen gezogen ist. Durch ihre sorgfältige Wortwahl und das, was sie sagen bzw. nicht sagen, bieten uns diese Briefe eine einzigartige Gelegenheit, „den Augenblick“ der ersten Zeit unter der Besatzung zu erfassen, die Dynamik der Beziehungen und der Kommunikation und die Prozesse der Entscheidungsfindung. Sämtliche Briefe sind mit der Hand geschrieben und in französischer Sprache auf dem Briefpapier der Firma verfasst: „Moisis Saltiel Söhne & Co. Holzhändler. Neue Holzhandlungen (beim Bahnhof). Thessaloniki“. Eine Ausnahme stellt der erste Brief dar, welcher mit der Maschine und auf Griechisch geschrieben wurde und den Stempel der Zensurbehörde trägt. Für jemanden, der nicht bloß die „Atmosphäre des Krieges“, sondern auch das „Klima in Abwesenheit des Krieges“ in dem besetzten Land und in einer jüdischen Familie erfassen will, sind Benikos Briefe ausgesprochen vielsagend. Sie geben Antworten und werfen noch mehr Fragen auf. Der erste, in einem zahlreiche orthographische Fehler aufweisenden Griechisch geschriebene Brief (Beniko und Valerie sprachen zwar gut Griechisch, hatten aber eine französische Erziehung genossen) lautet wie folgt:

Thessaloniki, den 19. März 1941

Meine liebe Valika,

erfreut empfing ich dein Telegramm, und ich hoffe, dass Ihr Giannis am Bahnhof getroffen habt und eine gute Reise hattet.

Uns geht es hier, Gott sei es gedankt, allen gut. Papa geht es fast schon wieder gut, Mama Sarah hatte am Tag, als du weggegangen bist, 38 Grad Fieber, und jetzt scheint es ihr schon viel besser zu gehen, heute sind es nur noch 37,3 und der Arzt hat gesagt, dass sie, wenn sie keine weitere Lungenentzündung bekommt, wieder vollständig genesen wird.

Ich hoffe, dass du im Hotel gut beraten wurdest, jedenfalls solltest du dich darauf verständigen, was du zu zahlen hast. Oder lass das Giannis regeln. Gestern habe ich dir telegraphisch das Geld geschickt, 140.000, durch Herren Tarrazi.

Ich hoffe, dass diese Reise es euch leichter macht, euch darum zu kümmern, ein kleines Häuschen zu finden, möbliert, mit 3 Zimmern, in Amarousi oder Kifisia, und dass Ihr im Sommer auch mal Urlaub macht.

Ins Restaurant solltet Ihr immer früh gehen, um gut und in Ruhe zu essen. Gestern Abend erwartete ich den General, und so verging die Zeit.

Die Kinder sollen artig sein, pass gut auf sie auf und küsse sie von mir, auch dich küsse ich.

Dein

Benikos

– Ein liebevoller Ehemann und Vater erteilt Anweisungen bezüglich des Anmietens eines Hauses, und es wird deutlich, dass ein relativ langer Aufenthalt geplant ist, dass diese finanzielle Belastung keine besondere Beunruhigung hervorzurufen scheint und dass ein Netzwerk sozialer Kontakte existiert, das die Situation leichter macht. Der Grund des Umzugs nach Athen war vermutlich die Bombardierung Thessalonikis gewesen. Die Sorge um die Familie prägt diesen kurzen Brief von seinem Anfang – mit der Erwähnung des Gesundheitszustands der betagten Eltern – bis zu seinem Ende, wo die Sorge um die Kinder ausgedrückt wird. Das Schuljahr war durch den Krieg abrupt unterbrochen worden. Es wird nicht ganz klar, was den Umzug letztlich veranlasst hatte, man selbst kannte ja die Umstände und musste sie nicht in einem Brief erwähnen, zumal dieser die Kontrollen durch die Zensur zu passieren hatte. Wahrscheinlich wurde Athen als eine sichere Zuflucht vor den Bombenangriffen betrachtet. Emily, die Auschwitz überleben sollte, war mit Albert Saltiel, Benikos Bruder, verheiratet und wohnte in einem anderen Stockwerk des gleichen Hauses. Sie erinnerte sich später daran, dass sie zu jener Zeit aus dem gleichen Grunde mit ihrem Mann nach Arnea auf der Chalkidiki gezogen war, wo sie Freunde hatten.

Zwei Tage später traf ein Telegramm im Kentrikon Hotel ein: „Trefft Frau Maragopoulou Kifisia Ikarias 11 Telefon 0-1500 Rate Haus Kifisia zu mieten. Stop. Mama gut fieberfrei. Benny Saltiel“. Valerie folgte diesem Rat, wie aus der Adresse hervorgeht, die im nächsten Brief, der ihr später persönlich übergeben wurde, angegeben ist. Auch Beniko hatte Thessaloniki an dem Tage verlassen, als die Deutschen in die Stadt einmarschierten, und am 10. April ging bei einem gewissen Antonakakis in der Odos Ippokratous ein weiteres Telegramm ein: „Komme morgen. Bin Chalkida. Benis“ Beniko besuchte also die Familie. Wie lange er bei ihr blieb, wissen wir nicht, doch ist er zur Arbeit in das nunmehr von den Deutschen besetzte Thessaloniki zurückgekehrt. Der nächste Brief datiert auf den 1. Juni:

Meine geliebte Valika,

ich nutze die Abreise meines Freundes und Kollegen Profil [Porfyrios] Efiliadis, um dir ausführlich zu schreiben.

Zunächst: Ich schreibe dir beinahe täglich per Post, abgesehen von dem, was ich dir über Kuriere, Freunde etc. an Notizen schicke. Von dir habe ich bis heute nichts erhalten und bin beunruhigt.

Giannis schickte mir über Herrn Avramidis und Leonidas einen Brief und sagte mir, dass seine Gattin und Frau Eftychia gekommen sind, um dich zu sehen, und das beruhigte mich; ich hoffe, dass Ihr alle bei guter Gesundheit seid.

Hier ist die Familie vollzählig. Die Saltiels und die Tsenios sind wunderbar, Vater geht es immer besser. Gestern stand er auf und setzte sich in den Sessel, zum Glück bin ich hier, denn er wollte mich unbedingt sehen.

Was mich und die alten Kollegen aus unserer Gemeinde betrifft, so sind wir ruhig, und es gibt keinen Grund für dich, in Sorge zu sein. Der Bora hat sich endgültig gelegt.

Ich wohne bei Tante Rachel, ich esse mit Mama und den Camchis bei Olga Saltiel zu Mittag, manchmal auch bei Maurice Molho, und am Abend bei Onkel Isak. Die Tante kümmert sich um alles. Ich habe das beste Zimmer, mit Bad usw., und Moise und Onkel Isak machen sich mir zuliebe krumm.

Durch Frau Eftychia, der Gattin des Doktors, die in Athen bleiben wird, Telefon 84233 bei ihrer Tante […], habe ich dir einen Koffer gesandt, voll mit den verschiedensten Dingen; wenn du ihn noch nicht bekommen hast, ruf an und schicke jemanden, damit er ihn abholt.

Meine geliebte Valika, hier fehlt es uns an nichts, abgesehen von Kaffee […], Öl, Seife und Kleidung. Das Übrige gibt es im Überfluss. Es bereitet mir große Sorgen, dass Ihr bei euch kein Brot […] etc. zu essen habt. Und ich frage mich, ob es nicht vorzuziehen wäre, dass Ihr hierher zurückkehrt.

Tante Rachel steht uns zur Verfügung, doch bin ich mir sicher, dass du nicht hier bleiben wollen wirst. Unmöglich. Letzten Endes könnten wir ein Haus mieten, aber ohne Möbel, Betten etc. Deshalb glaube ich, dass es das Beste ist, wenn Ihr dort bleibt. Außerdem ist es mit dem Reisen sehr schwierig. Papa denkt, dass wir auch den Winter über in Athen bleiben sollten. Ich werde, so Gott will, in gut zehn Tagen in Athen sein.

Ich schreibe dir, damit du unbedingt sofort und ohne zu zögern Kleider, Schuhe und alles, was für dich und die Kinder für den Winter nötig ist, kaufst, weil es hier nichts gibt und ich sicher bin, dass es auch in Athen nichts geben wird.

Die Möbel, Geschirr, Betten etc. bleiben im Haus – die Musafir denken nicht daran, zu gehen.

Alles, was wir mitnehmen können, habe ich in zwei Truhen verpackt. Emma hat das alles getragen, die Arme, und viel von ihren eigenen Sachen zurückgelassen und verloren. An Kleidung gibt es hier, soweit ich sehen konnte, nichts von euch, weder von den Kindern noch von dir.

Ebenso in unserem anderen Haus […] und im Haus von Olga Molho wie auch in den Büros, aber was sollst du dir darüber Sorgen machen, das ist hier generell so.

Ich hoffe, dass du das Geld von der Bank geholt hast.

Wenn Herr Efiliadis unterwegs etwas findet, wird er es für dich kaufen, bedank dich dann bei ihm und bezahl es.

Meine freundschaftlichen Grüße gehen an Frau und Herrn Mavrakis und an Nikos Ekaterinis. Giannis soll mir schreiben, ob Herr Antonakis von seiner Krankheit genesen ist und wo er sich aufhält.

Grüße an Herrn […], an Herrn Charalambos und seine Frau, an Herrn und Frau […].

Und nimm du die Kinder, Zizi, Nina und Diko, und umarme sie.

Ich küsse dich ganz zärtlich

Dein

Ben

In dem Brief klingen die dramatischen Ereignisse, die sich in jenen Tagen abgespielt haben, nur schwach an, und der Briefwechsel ist auch nur lückenhaft erhalten. Es geht um Dinge, die die Stadt Thessaloniki, die Juden und Valeries Familie betreffen. Wie bereits erwähnt, bedeutete der Einmarsch der Deutschen in Thessaloniki am 9. April für die Juden die sofortige Schließung ihrer Zeitungen und die Plünderung der Gemeindebüros. Am 15. und am 18. April nahmen die Deutschen eine Reihe von Angestellten der Gemeinde sowie die Mitglieder des Gemeindevorstandes und verschiedene prominente jüdische Verantwortliche der Solidaritätskomitees fest und inhaftierten sie (350), darunter auch Valeries Bruder Albert Tsenio. Oberrabbiner Koretz, der sich in Athen aufhielt, wurde dort am 17. Mai verhaftet. Die Gestapo drang in die Büroräume der Gemeinde ein und plünderte ihre Archive. Auch die Synagogen wurden geplündert. Am 21. April wurden in den Gaststätten Thessalonikis zweisprachige Tafeln aufgehängt (auf Deutsch und auf Griechisch): „Juden unerwünscht“.

Mit dem Krieg und dem Einmarsch der Deutschen schlossen auch die Schulen; sie sollten erst wieder im Juni öffnen. Die von der ältesten Tochter besuchte Schule, das amerikanische Anatolia-College, wurde konfisziert, um dort den deutschen Stab unterzubringen. Viele Bürger, die Verwandte in Athen oder eine andere Möglichkeit hatten, dort unterzukommen, verließen die Stadt (351). Ab dem 12. April wurde auch das schöne Wohnhaus der Saltiels am Boulevard Vassilissis Olgas von den Deutschen beschlagnahmt. Von vielem also schweigt der Brief vom 1. Juni. Wovon spricht er? Vor allem über das ständige Bemühen Benikos, in jeder nur möglichen Weise die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Man erfährt außerdem von einem Netzwerk von Personen mit christlichen Namen, wie dem Holzhändler Efiliadis, die bereit zu sein scheinen, ihnen beizustehen. Ohne zu zögern oder sogar freudig, bietet die Familie, ein Kreis von Geschwistern, Onkeln und Tanten, ihre sofortige Hilfe und Beistand an: Eine Tante sorgt für das Mittagessen, ein Onkel für das Abendbrot… Valerie jedenfalls brauche sich keine Sorgen machen: Bei den Tsenios und Saltiels stehe alles bestens…! Die Erkrankung von Papa Saltiel bessere sich und er genieße nun die Unterhaltungen mit seinem Sohn. Kein Wort von Albert Tsenios Inhaftierung. Vielleicht erzählten sie Valerie nichts, um „sie nicht zu beunruhigen“. Auch, was von der Gemeinde erzählt wird, ist beruhigend: „Wir sind ruhig, mach dir keine Sorgen, der Bora hat sich endgültig gelegt“! Dies wird sich später als gewaltige Illusion erweisen. Die Menschen, selbst die weitblickendsten und realistischsten Unternehmer, haben ein Bedürfnis, optimistisch zu sein; ihr Realismus beschränkt sich also ganz auf die Konfrontationen  mit den Schwierigkeiten des Alltags: „À la guerre comme à la guerre“, scheint der stumme Refrain zu lauten.

Mit bitterem Humor notiert Beniko, dass die Musafir („Gäste“), die von seinem Haus Besitz ergriffen haben, sich anscheinend nicht mehr von der Stelle bewegen wollen und dass in den beiden Truhen, die gerettet werden konnten, die Kleidungsstücke fehlten, weshalb man für den Winter in Athen Kleider und Schuhe kaufen müsse. Gelassen heißt es dann, die Situation sei ja für alle gleich! In jenen Tagen hatten die Bewohner Thessalonikis bereits die Bombenangriffe kennengelernt, sie hatten ihre ersten Opfer betrauert und so manchen Schaden erlitten. Natürlich habe man auch das Fehlen bestimmter Waren bemerkt, doch sei der Mangel in Athen weitaus dramatischer. In Thessaloniki gebe es eigentlich alles! Alles, außer Kaffee, Öl, Seife, Kleidung… Auf Beniko ist verlass. Sich wiederholende Zeitungsmeldungen sowie die ständigen Berichte in offiziellen und inoffiziellen Texten bezeugen für den gesamten Sommer 1941 einen erheblichen Mangel an Brot und Getreide, Zucker, Öl und Seife (352). In dem Brief wird eine schwierige Frage angesprochen, ein Dilemma: Soll man in Athen bleiben oder zurückkehren? Und wenn man zurückkommt, wo soll man dann wohnen? Der Vater rät zu Athen! Schutzverhalten, Zuneigung, der Wunsch, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen, und die Illusion, dass eine Rückkehr zur vom Krieg beschädigten Alltäglichkeit möglich sei – das sind die Elemente, durch die dieser Briefwechsel sich auszeichnet.


Aus: Rika Benveniste, Die Überlebenden.
Widerstand, Deportation, Rückkehr. Juden aus Thessaloniki in den 1940er Jahren,
Berlin, Edition Romiosini, 2016.

Übersetzt von Dennis Püllmann