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#Lesestoff

18.01.2018

Melpo Axioti: Kadmo — Illustration: Yorgos Konstantinou

Melpo Axioti: Kadmo — Illustration: Yorgos Konstantinou

Kadmo ist der letzte Roman von Melpo Axioti (1903-1973), der jüngst in der Übersetzung von Maria Zafón und mit einem Nachwort von Maria Kakavoulia in der Edition Romiosini veröffentlicht wurde. Der Roman liest sich als literarisches Fotoalbum einer Frau, die als Schriftstellerin modern, politisch mutig und privat kompromisslos war; er ist zugleich eine Wanderung durch das Europa der Nachkriegszeit, aber auch durch das Leben und Werk der Erzählerin: durch ihre Kindheit auf Mykonos und ihre Jugend in Athen vor dem Zweiten Weltkrieg, durch ihr Exil in Paris, Ost-Berlin und Warschau, und anschließend durch ihre Rückkehr nach Griechenland 1964.

Der unübliche Name »Kadmo«, der dem Vornamen der Autorin ähnelt, erinnert an Kadmos aus der griechischen Mythologie, der sich auf die Suche nach seiner geraubten Schwester Europa machte, dabei das phönizische Alphabet nach Griechenland (und damit nach Europa) brachte und Theben, Schauplatz der wichtigsten griechischen Tragödien, gründete.

Από την Edition Romiosini κυκλοφόρησε η Κάδμω (1972), το τελευταίο μυθιστόρημα της Μέλπως Αξιώτη (1903-1973), σε μετάφραση της Μαρίας Ζαφόν και με επίμετρο της Μαρίας Κακαβούλια.

Melpo Axioti: Kadmo (Auszug)

Bilder

Die Bank, auf der du in Berlin gesessen hast. Im Park. Ab und zu kam die Sonne durch. Der Schnee war weich. Was willst du denn jetzt hier? Wie bist du nur an einen so nichtsahnenden Ort gelangt? Erinnere dich an die Zeit der Besatzung: »Tausende und Abertausende von Bomben haben die Alliierten auf Berlin geworfen!« Und du warst begeistert, weil das den Sieg bringen würde, das Ende des Schreckens. Aber jetzt wohnst du hier. In diesen Ruinen, in den Löchern, die die Einschläge hinterlassen haben, in den Kratern der Vulkane, die sie vom Himmel hinabschickten.
     Heute sind all diese schrecklichen Dinge »aus der Mode« gekommen. Und da du ja nun mal hier bist, sitzt du auf der Parkbank, und zwar immer dann, wenn die Sonne scheint oder wenn der Schnee weich ist. Aber was willst du nur hier? Was hat dich an einen so fremden Ort verschlagen? Erinnere dich an die Radiosendungen während der Besatzung. Obwohl sie streng verboten waren, wartetest du auf die Stunde, wo es hieß: »Soundso viele Bomben sind heute auf Berlin niedergegangen.« Und du warst begeistert, weil sie den Sieg brachten, das Ende der des Schreckens. Das Paradoxe daran ist nur, dass du jetzt ausgerechnet hier wohnst, in genau diesen Ruinen.
     Mal scheinen dir die Dinge, die Geschehnisse, ganz nah, dann wieder weit weg, und dann wieder huschen die Jahre eilig vorbei und du verlierst das Gefühl für Raum und Zeit. Du warst eine Pflanze, ließest in einem fort Blätter fallen, bis sie wieder von Neuem sprossen. Du warst ein Vulkan und bekamst gerade so viel Luft, wie nötig war, um am Leben zu bleiben.
     Und alles blieb ein Jahr lang vollkommen vage: Ich darf nicht vergessen, dies oder jenes zu sagen, wenn ich wieder nach Hause komme.
     »Lebt Ihre Mutter?«, wurden wir oft von Journalisten gefragt. »Nein, wir haben keine Mutter mehr.« »Na dann, dann denkt jetzt niemand mehr an Sie!«
     Und dennoch, es blieb alles in meiner Erinnerung für unbestimmte Zeit: Über dies muss ich sprechen, jenes erwähnen, wenn ich eines Tages zurückkehre.

Aber das Wichtigste war, dass du die Wörter vergaßst, dort im Ausland. Wenn du Wörter vergißt, bedeutet es altern: Ein Organ nach dem anderen verabschiedet sich von dir. Sie zersetzen sich. Dir sind Wörter abhandengekommen. Du hast deine Bücher verloren, du hast auch sie vergessen. Du bist ein antiker Krug geworden. Aber wozu sollte er nütze sein, jetzt, wo ihm die Frucht fehlt: Sein Inneres ist leer.
     Bar an Wörtern, immer reduzierter, und wenn du vermeinst, sie seien versiegt, erscheinen sie wieder und kommen zurück. Die Magie des Wortes fühlt derjenige, der liest, ohne zu wissen, wie ihm geschieht. Als würde man von einer Fee verzaubert. Wenn du vermeinst, sie seien versiegt, erscheinen sie wieder, sie rieseln wie durch ein Sieb. Du hast das Gefühl, nackt zu sein, und dennoch kommen sie in regelmäßigen Abständen und suchen dich auf. Je nach Jahreszeit benutzt du andere, als würdest du sie zum ersten Mal entdecken. Du hast nolens volens gelernt, mit wenigen Wörtern zu leben und zu sterben. Und zu schreiben. Man könnte beim Lesen deiner Bücher sogar denken, dass das Gewicht aller Wörter, die du bisher geschrieben hast, auf allen zukünftigen lastet, die du schreiben wirst. Aber wieder vergaßt du sie. Als ob das Geschriebene nie entstanden wäre.
     Und deine Bücher ähneln dir: Sie sind auch einsam, sie leben in der Einsamkeit. Und einige seltsame Wörter: Türriegel, Türangel, Einlauf, Schließe, Blätterbeet (für Feigen), Funzel, Gecko, Reptil, Bruthitze.
     Du liest das Buch gestückelt … unzusammenhängende Sätze, hier einen, dort einen, eigenständige Sätze. Dasselbe gilt für deine Existenz, sie bietet sich gestückelt an. Die Bildung deiner Persönlichkeit, das Konstrukt, das sich Person nennt. Jeder Bereich angeblich unabhängig vom anderen. Und irrelevant der eine für den anderen.
     Aber all das ist nun überholt und gehört inzwischen der Vergangenheit an. Du hattest gute Laune und sie währte lang genug. Du wartetest, dass sich die Tür öffnet und jemand kommen würde. Oder durch das Schlüsselloch schaut, dass du spürst, wie er den Blick auf dich heftet. Doch nichts von alledem. Der leere Raum ließ dir keinen Raum mehr zum Atmen.

Und dennoch, es waren Gegenstände, die dir die Erinnerung zurückbrachten. Jene Uhr, sie hatte eine immense Bedeutung für dich in den Jahren der Besatzung! Oder deine Liebesnächte. Die unfreiwillige Reise gen Norden. Und du hattest diesen unerträglichen Glauben, der sich bis dahin durch nichts angekündigt hatte. Wie auch, du, die du doch selbst so unvorbereitet warst: ein verwöhntes Kind, Eltern um dich herum und Verwandte, die für dich lebten, die dir jeden Wunsch von den Augen ablasen. Wie hättest du damals auch nur ahnen können, dass eine Zeit kommen würde, in der du meilenweit entfernt fremde Menschen treffen würdest, dass du Seelenlosem und Beseeltem, dass du viel Kummer, viel Tod und nur äußerst wenig Freude begegnen würdest, abgezählt an den Fingern einer Hand?
     Aber da waren eben auch einige Gegenstände. Ganz gewöhnliche Gegenstände und du ein treuer Kämpfer.
     Einige Platten, die auf dem Grammophon spielten. Platten werden gespielt, Tausende Exemplare der Bücher sind im Umlauf, und du sitzt da in der Dunkelheit, reglos, an das Kissen gestützt, unverkauft, allein, und die Bände deiner Bücher liegen in einem Regal, verstaubte Reihen. Gleiche Reihen. Unberührt.
     Schließlich überlegtest du dir, ob du das Lexikon in deiner Sprache lesen solltest: immerhin etwas … Als du es in die Hand nahmst, dick wie es war, öffnetest du es aufs Geratewohl, suchtest, blättertest die Seiten um, es war ja kein gewöhnliches Buch. Es kamen plötzlich Erinnerungen in dir hoch oder du erfuhrst etwas zum ersten Mal, wundertest dich, sahst Bilder vor dir, die die Wörter ausdrückten, die Bedeutungen. Das Rad drehte sich rückwärts, der Geist hüpfte, in deiner Hand hieltst du einen großen Packen Papier, Hunderte von Seiten … Ach, eine Seite ist verlorengegangen! Zum Glück sind es nicht viele. Der Blattschnitt ist etwas dreckig geworden … dort, wo es die Hand, der Finger, tausendmal berührt und jenen dunklen Flecken hinterlassen hat.
     Aber in diesem dicken Lexikon ist auch ein handbeschriebenes Blatt. Ein Lied von dir. Wie man so sagt, ein Gedicht. Konterbande. So hieß es.
     Verszeilen, die hier und da umgeändert wurden. Aber nur ganz wenige. Warum sollten sie umgeändert werden? Ja, jetzt erinnerst du dich: Die Bezüge standen zuerst in der ersten Person. Jetzt ist es unpersönlicher geworden, und dadurch persönlicher. Hier und da sind die Buchstaben im Titel verblasst, der Goldstaub ging ab, wie Blütenpollen.

Sammele jetzt die Zettelchen ein, deine Notizen, jetzt, wo du dich hingelegt hast. Schließ Augen und Ohren. Gib die Hoffnung auf, dass jemand kommt, und sei es nur, um dich durch das Schlüsselloch zu beobachten. Leg die Zettel beiseite, die du so sorgfältig eingesammelt hast. Leiste dir jetzt selbst Gesellschaft. Du musst es jetzt ansprechen. Aber wer wird dir zuhören? Wer wird dir glauben? Die Hoffnung, die solltest du jetzt auch begraben.
     Denn der andere, der Nächste, dein Leser sozusagen, wie soll er dich verstehen? Es verhält sich ähnlich wie mit alten Häusern: Sie werden gestützt, damit sie sich nicht zur Seite neigen, man färbt ihnen den Schnurrbart mit Bartfärbemittel: Es gibt alle möglichen Tricks.
     Gegenstände können schon was aushalten, aber irgendwann gehen sie dann eben doch kaputt; zuerst nur ganz wenig, gerade so eben. Doch auf einmal siehst du es. Wann ist das nur passiert? Du hast es gar nicht bemerkt, als es geschehen ist: Der Zerfall kommt langsam bei den Dingen, beim Menschen auch.
     Oh! Heute ist der Frühling angebrochen! Mit ihm sind Kopfsalat und Mispeln gekommen, und ein Käfer krabbelt jetzt über das Papier.
     Du hast dich auf Orte eingelassen, an die du nicht mehr kommst. Paris, Berlin, Warschau … Menschen geraten dir durcheinander, Dinge und Orte.
     Deine ganze Vergangenheit: Anna, Maria, Ismini, Kadmo … All die Namen, die du dir ausgedacht hast, all die Situationen, die du dir ausgedacht hast, die Michelinen, denen du und die dir beigestanden haben. Auf den Buchseiten hat dein Leben stattgefunden, bist du erwachsen und alt geworden … Dort ist deine Vergangenheit.
     Aber es wird am besten sein, dich nicht mehr zu erinnern, zu vergessen. Nicht sehen wie ein Blinder. Nicht berühren wie ein Leprakranker, nicht lieben … aber das geht nicht … Denn Situationen und Dinge erscheinen dir von selbst. Du hast alles durcheinander geworfen – hast deine alten Bücher vergessen, deine inzwischen vermoderten Bücher, in die Erinnerung gestopft, in Köpfe, in Seelen.

Aus: Melpo Axioti, Kadmo.
Berlin, Edition Romiosini, 2017.

Originaltitel: Κάδμω (1972).
Aus dem Griechischen übersetzt von Maria Zafón.