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#Editorial

16.05.2018

 	 Stavros Zoumboulakis: Gedanken über den Holocaust

Stavros Zoumboulakis: Gedanken über den Holocaust

Das Centrum Modernes Griechenland präsentierte am 20. März in Zusammenarbeit mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas das Buch von Rosina Asser Pardo 548 Tage unter falschem Namen – vom Untergang der jüdischen Gemeinde Saloniki. Damit setzten wir eine Reihe von Veranstaltungen fort, die die Erinnerung an den Holocaust wach halten sollen. In diesem Zusammenhang publizierte der Autor und Vorstandsvorsitzende der Griechischen Nationalbibliothek Stavros Zoumboulakis vor wenigen Monaten einen Essay über den Antisemitismus nicht nur in Deutschland, sondern auch in weiteren europäischen Ländern wie Polen, Rumänien und Griechenland. Diese Gedanken wollen wir unbedingt auch auf Deutsch verbreiten, in der Übersetzung von Sophia Alexandridis.

Στο πλαίσιο του αφιερώματος της Εθνικής Βιβλιοθήκης της Ελλάδος (Ε.Β.Ε.) «Το Ολοκαύτωμα του Ελληνικού και του Ευρωπαϊκού Εβραϊσμού» μίλησε στις 27 Ιανουαρίου 2018 ο συγγραφέας και Πρόεδρος του Εφορευτικού Συμβουλίου της Ε.Β.Ε. Σταύρος Ζουμπουλάκης για τη διαρκή δοκιμασία, στην οποία θέτει το Ολοκαύτωμα την ηθική μας συνείδηση. Δημοσιεύουμε εδώ την ομιλία του με τίτλο «Για το Ολοκαύτωμα» στα Γερμανικά.

Gedanken über den Holocaust
Rede von Stravros Zoumboulakis in der griechischen Nationalbibliothek am 27. Januar 2018

Am 4. Januar 2018 starb der bedeutende Schriftsteller Aharon Appelfeld in der israelischen Stadt Petach Tikwa. Er wurde 1932 geboren, in eine integrierte jüdische Familie hinein. Sein Geburtsdorf in der Nähe der Oblast Tscherniwizi im Norden der Bukowina – damals noch rumänisch - gehört heute zur Ukraine. Er lernte das gemeinsame Schicksal der europäischen Juden zur Zeit des Nazi-Hasses kennen (seine Mutter wurde ermordet, er selbst von seinem Vater getrennt), dennoch war sein Schicksal ein ganz anderes: Er flieht im Herbst 1942 aus dem Konzentrationslager, in das sie ihn gesteckt hatten und irrt umher. Ein 10 jähriger Junge, allein in den Wäldern der Ukraine. Nach dem Ende des Krieges wird er ganz Europa durchqueren und in Italien ankommen, von wo aus ihn, den nun vierzehnjährigen Jungen, ein Schiff 1946 nach Palästina bringt. Diese, in seinen Kindheitstagen unbegreifliche Erfahrung ist die Inspirationsquelle für sein Gesamtwerk.

In seinem Roman Tzili (1938) lesen wir nochmals seine Lebensgeschichte, übertragen auf das Leben eines zwölfjährigen geistig behinderten Mädchens, das sich in den Wäldern der Ukraine verirrt und unterkühlt und fast ausgehungert gefunden und gerettet wird. Tzilis Schicksal ist schlimmer als das reale des kleinen Aharon, denn sie wird missbraucht und geschwängert, und allein zurückgelassen. Als der Krieg endet, trifft die kleine Tzili ein paar wenige Juden, die dem Tod entkommen sind. Sie weiß nicht genau, was in der Vergangenheit passiert ist, versteht aber, dass es keinen Grund mehr gibt sich zu verstecken und irgendwann fragt sie sich, ganz naiv und unschuldig: «Was sage ich zu Mama, wenn ich sie treffe?» Appelfeld fährt mit erschreckender Einfachheit fort:

Sie wusste nicht, was die ganze Welt schon wusste: außer einer Handvoll Überlebender, gibt es keine Juden mehr.

Ja, am Ende des 2. Weltkriegs gibt es keine Juden mehr in Europa. Die meisten Juden der europäischen Länder wurden ausgerottet. Lang ist die Liste jedes Landes mit den Zahlen seiner ermordeten Juden. Ich lese sie nicht vor. Allein in Polen wurden von seinen 3.300.000 Juden die 3.000.000 ermordet. In vier Jahren verschwand auf die brutalste Art und Weise das uralte und vielseitige europäische Judentum. In den Gemeinschaften und Städten Osteuropas, die entweder rein- oder mehrheitlich jüdisch waren, gab es am Ende des Krieges keinen einzigen Juden mehr. Die meisten der überlebenden Juden werden sich einen sichereren Ort suchen, an dem sie ihr Leben fortsetzen können; sie verlassen Europa und ziehen nach Palästina – oder anschließend Israel- und Amerika. Nur in Frankreich gibt es heute stark bevölkerte jüdische Gemeinden. In allen anderen europäischen Ländern ist das Judentum nur noch ein kümmerlicher Rest.

Inwiefern hat jedoch Appelfeld Recht, wenn er schreibt: «was die ganze Welt schon wusste»? Was wussten die Menschen wirklich über die Vertreibung und Vernichtung der Juden vor dem Krieg, während und nach seinem Ende? Was wussten die Juden selbst über ihre Vernichtung? Eine gerechte Antwort auf diese schwierigen Fragen kann nicht allgemein sein, sie muss für jeden Fall angemessen und mit viel Vorsicht gegeben werden. Die kritischste und sicher entscheidenste Position ist immer die des Täters, nämlich Deutschlands, und hierbei möchte ich kurz bleiben.

Die berüchtigten Nürnberger Gesetze wurden 1935 erlassen. Das zweite Gesetz, das «Reichsbürgergesetz», legte fest, wer Reichsbürger ist und somit volle Rechte erhalten wird, und wer ein einfacher Staatsangehöriger, dem diese Rechte verwehrt bleiben. Das dritte Nürnberger Gesetz «Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre» verbot die Eheschließung zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder verwandten Blutes. Ihnen wurde auch die Beschäftigung einer unter 45 Jahre alten Haushaltshilfe und das Histen der Reichsfahne verboten. 1938 werden weitere ergänzende Vorschriften des zweiten Gesetzes, des Reichsbürgergesetzes, veröffentlicht. Am 25. Juli 1938 verbietet die vierte ergänzende Vorschrift des Gesetzes die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit, am 27. September unterschreibt Hitler die fünfte ergänzende Vorschrift desselben Gesetzes, die den Juden die Ausübung der Tätigkeit als Anwalt verbietet. Am 12. November, drei Tage nach der Reichskristallnacht, wie sie sarkastisch benannt wurde, wurde den Juden jegliche Berufstätigkeit verboten. Am 15. November wurde den jüdischen Kindern die Teilnahme am Schulunterricht untersagt, am 19. November schloss man die Juden aus dem nationalen Gesundheitssystem aus, am 3. Dezember nahm man ihnen die Fahrerlaubnis weg, am 6. Dezember wurde ihnen der Eintritt in Theater, Museen, Kinos, Konzerthallen und Sporthallen untersagt, am 8. Dezember den jüdischen Wissenschaftlern der Zutritt zu den universitären Bibliotheken. Und so weiter. Und so weiter.

Nach dem Ende des Krieges werden viele Deutsche sagen, dass sie nicht wussten, keine Ahnung hatten, was den Juden widerfuhr. Aber ehrlich, haben die Ärzte und Anwälte nicht mitbekommen, dass irgendwann ihre jüdischen Kollegen von ihrer Seite verschwunden sind, aus den Krankenhäusern und Gerichtssälen? Haben die Lehrer und Dozenten nicht bemerkt, dass ihre jüdischen Schülerinnen und Schüler und die Studierenden aus den Unterrichtsräumen verschwanden, und haben die Schülerinnen und Schüler und die Studierenden und ihre Eltern nicht mitbekommen, dass ihre jüdischen Klassenkameraden verschwunden sind? Hat denn niemand etwas verstanden?

Die Nazis beginnen den Bau der Konzentrationslager in Deutschland schon 1933, zunächst in Dachau (20.03.1933), bei München. Einige von ihnen bleiben bis zum Ende des Krieges geöffnet (ich erwähne in Klammern das Jahr der Eröffnung der Lager): außer Dachau, Sachsenhausen (1936), Buchenwald (1937), Flossenbürg (Mai 1938), Mauthausen (Österreich, August 1938), Ravensbrück (Mai 1939). Diese Lager, in denen mehrere hunderttausend Gefangene den Tod finden, sind in der Nähe von Städten und Dörfern gebaut. Hat denn kein Anwohner der umliegenden Orte gesehen, was geschah, mitbekommen, was dort drinnen vorging?

Das Verbrechen der Vernichtung der Juden geschah nicht automatisch, das haben Menschen begangen. Diese Menschen waren nicht nur Führungskader der NSDAP, der SS und andere Monster, sondern normale Menschen aus der deutschen Gesellschaft, brave Familienmenschen, ausgebildete Fachleute, gewissenhafte Mitarbeiter. Das Verbrechen geschah durch aktive Unterstützung oder der Schuld der Gleichgültigkeit der deutschen Gesellschaft.

Aber nicht nur der deutschen. Die Aufgabe, die sich Deutschland gestellt hatte, also die Vernichtung der Juden weltweit, konnte es nicht alleine lösen. Es brauchte Unterstützer. Die fand es einfach und bereitwillig in den Faschisten und Antisemiten anderer europäischer Staaten. In Polen, wie wir bereits erwähnten, wissen wir ganz genau und zweifellos, dass tausende Bewohner nicht nur die Verbrechen, die die Deutschen begangen, tolerierten, sondern selbst ihre Nachbarn mit ihren eigenen Händen ermordeten. Die 1.600 Juden aus Jedwabne wurden nicht von Deutschen umgebracht, sondern von den Dorfbewohnern selbst, auf brutalste Art und Weise: mit Messern, Sensen, Keulen, Steinen und die meisten verbrannten sie lebendig in einer Scheune.

Die Invasion Polens durch die Deutschen (23. Juni 1941), zwei Tage nach Abzug der Sowjets, gab den Polen die Chance, ihren lang gehassten Feind loszuwerden und sich dessen Vermögen anzueignen. Jedwabne ist nicht das einzige Dorf, oder die einzige Gemeinschaft Polens, das ein solches Massaker erlebt hat. Dasselbe geschah in ganz Polen. In der Bukowina, dem Vaterland Appelfelds, von dem zu Beginn die Rede war und auch in Bessarabien, 1941. Die Vertreibung der Juden durch die Rumänen ist so heftig, dass die Deutschen manchmal intervenieren müssen um sie zu mäßigen. Die Rumänen bringen die Juden nach Transnistrien, wo sie mit radikaler Grausamkeit 150.000 töten. Raul Hilberg merkt an, dass kein einziges Land, mit Ausnahme Deutschlands, so massiv an der Abschlachtung der Juden teilgenommen hat, wie Rumänien. Insgesamt haben die Rumänen in einem Jahr 280.000 bis 380.000 Juden ermordet. Die Massentötungen, von Einsatzgruppen in Osteuropa durchgeführt, waren nicht nur aufgrund der passiven lokalen Bevölkerung erfolgreich, sondern auch aufgrund der aktiven Zusammenarbeit aller, Kroaten, Litauer, Letten und in erster Linie Ukrainer. In der Sowjetunion wurden über 700.000 Juden ermordet. Kurz gesagt, das Verbrechen, das zum Aussterben der Juden führte, ist ein gesamteuropäisches Verbrechen, zwar mit Deutschland als Hauptverantwortlichen, aber nicht als einzigen. Unsere europäischen Vorfahren, unsere Großväter und Väter haben 5.000.000-6.000.000 Juden ermordet. Ungefähr 1.500.000 von ihnen wurden nicht einmal älter als 14 Jahre.

Die Ursache dieses unvorstellbaren Verbrechens hat einen Namen: Antisemitismus. Zwei Tausend Jahre Antijudaismus fanden ein abscheuliches Ende im Holocaust. Der Antijudaismus ist ein wesentliches Merkmal Europas. Die europäische Geschichte kann nicht ohne diese dunkle Seite verstanden werden. Die Dauer und Intensität des antijudaistischen Hasses sind ein Rätsel, dass sich nicht so einfach lösen lässt. Zumal er ununterbrochen weitergeht, auch nach der religiösen und politischen Niederlage des Judaismus, im 1. Jahrhundert n.Chr., sogar in Gebieten, in denen es nicht einmal einen Juden gab. Was brachte Menschen dazu, antijudaistische Texte zu schreiben, obwohl sie nie einen Juden gesehen hatten? Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu diskutieren. Sicher ist, dass trotz all der Veränderungen in Europa eine Sache gleich bleibt: der Antijudaismus.

Wir feierten vergangenes Jahr, anlässlich der Anbringung der 95 Thesen Luthers an die universitäre Kapelle Wittenbergs, 500 Jahre Reformation. Luther hat das christliche Europa neu geordnet und das in sehr kurzer Zeit. Er änderte alles, außer eines: den Antijudaismus. Luther blieb ein brutaler Antisemit. Der Nationalsozialismus erfand nicht den Antisemitismus, er fand ihn fertig vor. Die Christen Europas wollen die Juden nicht akzeptieren, die sich weigern den wahren Glauben anzunehmen und auf ihrem Fehler beharren. Irgendetwas müssen sie mit diesen Dickköpfen machen: sie bekehren, in Ghettos sperren, sie aus ihrem Land vertreiben. Allerdings ist keine dieser Lösungen, die alle ausprobiert wurden, effektiv. Die Nazis, die diesen Antijudaismus aufgriffen, werden ihn zu seinem schlimmsten denkbaren Ende bringen: die einzig sichere Lösung, die Welt endgültig von den Juden zu befreien, ist sie zu töten. Sie alle töten? Ja, alle, überall auf der Welt. Das Bild der Juden im Nationalsozialismus unterschied sich nicht von dem, das alle Welt von ihnen hatte: Der Jude ist die Katastrophe, die Infektion.

Dieses schlimmste denkbare Ergebnis des historischen Antisemitismus, genannt die Endlösung der Judenfrage, wird am 20. Januar 1942 in Berlin entschieden, am Großen Wannsee 56-58. Wir brauchen aber nicht zu denken, dass die Entscheidung zur Endlösung überraschend kam, an einem Tag, während einer Konferenz von Führungskadern. Sie wurde lange vorbereitet, alle Ausführungen der nationalsozialistischen Rassentheorie führten dorthin. Die Wannseekonferenz wurde vom berüchtigten Reinhard Heydrich einberufen, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und es nahmen vierzehn Leute daran teil, darunter auch Eichmann. Was bedeutet Endlösung? Das meint eine Lösung, die keinen Platz für eine weitere Lösung lässt. Also: Tod. Der nationalsozialistische Antisemitismus ist die Fortsetzung des historischen Antisemitismus, aber die Entscheidung zur Endlösung definiert einen Schnittpunkt in dieser abscheulichen Fortsetzung. Die Nazis werden alles tun um die Juden zu finden und entweder töten sie sie auf der Stelle oder sie bringen sie in die Lager, wo sie sie vergasen, sodass es endlich eine judenreine Welt gibt.

Lasst uns hier mal genauer schauen. Wenden wir uns ausschließlich den Tötungslagern zu, können wir die Bevölkerung Osteuropas freisprechen, die sich außerhalb der Lager aktiv an der Abschlachtung der Juden beteiligt hat. Der Antisemitismus der Nazis, der Erlösungsantisemitismus, wie ihn Saul Friedländer bezeichnete, verfolgt das Ziel, die Welt von den Juden zu erlösen. Das ist kein zweitrangiges Element der nationalsozialistischen Theorie, sondern ihr Kern. Diese zentrale Position des Antisemitismus zeigt sich apokalyptisch am Ende des Krieges, als alles schon entschieden war und die alliierten Kräfte vorrückten. Statt zu diesem Zeitpunkt an einen Rückzug zu denken und zu retten, was zu noch zu retten ist, denkt Deutschland, entgegen jeglicher militärischer Vernunft, nur daran sein erlösendes Werk nicht unvollendet zu lassen, also die Ausrottung der Juden auf der Welt. Es werden Zeit und Kräfte aufgewendet, um die Juden in Lager zu bringen, näher an Deutschland, in denen jetzt mehr Sonderkommandos eingesetzt werden, damit alles perfekt läuft, vierundzwanzig Stunden am Tag. 700.000 – 800.000 Gefangene nahmen den Weg nach Westen. Der Großteil von ihnen Juden. Ungefähr 250.000 dieser Menschen starben auf diesem qualvollen Marsch an Unterkühlung, Hunger, Erschöpfung oder durch eine Kugel im Kopf.

Der Holocaust ist nichts, was anderswo passiert, weit weg, tausende Kilometer hinter unseren Grenzen. Es passiert auch bei uns, in unserer Nähe. 1941 gab es ungefähr 75.000-80.000 Juden in Griechenland – es gibt keine genauen Zahlen. Von denen wurden 62.000-65.000 vernichtet. Die deutschen Nazis (aber auch Österreicher, Italiener und Bulgaren) holten unsere Nachbarn und Mitbürger aus ihren Häusern und führten sie in die Vernichtungslager. Die nationale Rhetorik zu diesem Thema argumentiert, dass wir Griechen die Juden schon immer (und immer noch) liebten, dass der Antisemitismus und der Rassismus uns fremd sind und - anders als im restlichen Europa - wir unsere Freunde, die Juden, beschützt haben. Diese Rhetorik ist falsch und drückt ein unreifes, kindliches, ohne Selbstvertrauen bestehendes nationales Bewusstsein aus, welches sich weigert, Verantwortung zu übernehmen. Wenn wir sie wirklich beschützt hätten, wie kann es dann sein, dass die Zahl der Vernichtung der Juden in Griechenland, vorsichtig berechnet, bei 84-85% liegt, eine der höchsten Europas? Die Forschung zeigt, dass die Zahl der geretteten Juden im Zusammenhang mit dem Schutz steht, den ihnen die Gesellschaft bot. Also, je mehr Juden von ihr beschützt wurden, desto mehr wurden gerettet. Was das für ein Schutz war zeigt die Tatsache, dass in Didymoticho 970 von 1000 Juden in die Vernichtungslager gebracht wurden. In Komotini waren es 819 von 850, in Xanthi 561 von 600, in Kavala 1.800 von 2.200, in Serres 596 von 600, in Ioannina 1.860 von 1.950, auf Rhodos 2.000 von 2.200 und aus Thessaloniki 46.000 von 56.000.

Die selbstgefällige nationale Rhetorik bezieht sich nur auf drei vier Fälle, allen voran Zakynthos, wo tatsächlich von den 275 Juden auf der Insel 275 gerettet wurden. Wie ist das passiert? Jede Rettung muss einzeln betrachtet werden, weil es immer viele Faktoren sind, die dazu beigetragen haben. Nirgends aber ist sie erfolgreich ohne die Mobilisierung aller lokalen Behörden und der Unterstützung der Bevölkerung. Auf Zakynthos wurden die Juden gerettet, weil einige Nichtjuden, der Metropolit Chrisostomos, der Bürgermeister Lukas Karrer, aber auch der österreichische Kommandant der auf der Insel stationierten Garde, alles in ihrer Macht stehende getan haben, um sie zu retten - etwas das nicht ohne die aktive Teilnahme der Bewohner der Insel geschehen konnte. In Volos deportierte man von den 850-900 Juden 130-140 -eine sehr geringe Anzahl im Vergleich zu anderen Orten- so auch mehr oder weniger in den anderen thessalischen Städten: Larissa, Trikala, Karditsa. Hierfür gibt es viele Gründe: die starke Widerstandsbewegung, die Einstellung des Metropoliten Joachim, des Bürgermeisters Nikolaos Saratsis, des Präfekten, sogar des deutschen Konsuls – aber natürlich auch der Bewohner.

Lassen wir uns doch nicht von Lügen blenden. Unsere geliebten Nachbarn, die Juden, ließen wir allein und als die Deutschen kamen, um sie in die Vernichtungslager zu deportieren, plünderten wir ihre Häuser und Geschäfte. Eine Lüge ist auch die angeblich tolle Koexistenz von Christen und Juden vor dem 2. Weltkrieg, denn, wenn es so etwas gegeben hätte, hätte man das jüdische Viertel Kampel (1931) nicht in Brand gesetzt und die Zahlen der ermordeten Juden während des Krieges wären nicht so schrecklich hoch. Wir müssen endlich gemeinsam als Gesellschaft die Verantwortung für die Vernichtung der Juden in Griechenland übernehmen. Tief in unseren Herzen wissen wir, dass wir Verantwortung tragen. Aber wir müssen sie auch anerkennen. Das wir uns ständig auf Zakynthos und andere ähnliche Fälle beziehen, zeigt in erster Linie unser Schuldbewusstsein.

Der Skamandros und alle anderen Flüsse dieser Erde färbten sich viele Male rot vom Blut der Menschen: Kriege, zivile Konflikte, Genozide. Auf der langen Liste alles Schlechten der Geschichte hat der Genozid der Juden eine einzigartige Stellung. Einzigartig heißt nicht auch alleinig. Seine Einzigartigkeit verdankt der jüdische Genozid dem Grund, aus dem er geschah (weil die Juden das abscheuliche Verbrechen begangen, geboren worden zu sein) und der Art und Weise, in der er geschah: kalt und methodisch, systematisch und vor allem konsequent. Die nationalsozialistische Verfolgung der Juden war radikal: Die Nazis verweigerten jedem einzelnen Juden das Recht zu existieren. Der Holocaust ist ein Ereignis von universeller Bedeutung. Es betrifft die Juden natürlich auf eine komplett andere Art und Weise -seit es heute keinen Juden mehr gibt, der nicht seine direkten Vorfahren beim Holocaust verloren hat- es betrifft aber auch uns andere. Der Holocaust unterzieht unser moralisches Gewissen einem Dauertest und die Konfrontation mit ihm lässt uns vielleicht zwei Dinge bewusst werden. Erstens, niemand von uns ist sicher vor dem Akt des Bösen, es gibt keine allgemeingültigen Garantien gegen die Barbarei. Deutschland, das dieses Verbrechen begangen hat, war vor allem ein Land mit gehobener Kultur und Bildung. Die einzige Garantie ist dieses schmale, zerbrechliche und bescheidene Ding, das das menschliche Bewusstsein ist, wenn es irgendwann diese schwierige Entscheidung treffen muss einem anderen Menschen nichts Böses zu tun. Zweitens, die Passivität ist keine moralisch neutrale Einstellung, denn sie lässt das Böse sich ungehindert ausbreiten.

Wir müssen die Erinnerung an den Holocaust schützen, vor seinen rechtsextremen und pseudowissenschaftlichen Leugnern und sie uns ständig vor Augen halten. Erinnerung an den Holocaust heißt vor allem ununterbrochener Kampf gegen den Antisemitismus und all seine Formen. Eine wichtige Rolle bei diesem Kampf gegen den immer blühenden Antisemitismus- hier bei uns und in all den orthodoxen Ländern- müsste die orthodoxe Kirche spielen, was sie aber nicht tut. Sie ist die einzige christliche Kirche, die kein offizielles Schreiben veröffentlicht hat, in dem sie ausdrücklich und kategorisch den Antisemitismus verurteilt und um Entschuldigung für das Böse, das das christliche Europa diesen Kindern Abrahams angetan hat, bittet. Die griechische Nationalbibliothek jedoch, oberste intellektuelle Institution des Landes, will mit dieser Widmung, mit unverzeihlicher Verzögerung und zum ersten Mal, anbieten, dass sie alles in ihrer Macht stehende in dieser Richtung tuen wird. Das ist ihre geistige und moralische Pflicht.

Mit dieser Rede, lade ich euch ein heute, zum internationalen Holocaust-Gedenktag, die Frage der kleinen Tzili, mit der geistigen Behinderung, die schwanger und hungrig durch die eisigen Wälder irrt, in Erinnerung zu behalten: «Was sage ich zu Mama, wenn ich sie treffe?» Sie wird sie niemals treffen, so wie auch Aharon Appelfeld seine niemals treffen wird. Ihre Frage richtet sich an uns: Was sagen wir der kleinen Tzili, wenn wir sie treffen?

Σταύρος Ζουμπουλάκης, Για το Ολοκαύτωμα. Ομιλία στην Εθνική Βιβλιοθήκη της Ελλάδος (27 Ιανουαρίου 2018), Αθήνα, Πόλις, 2018.
Übersetzung aus dem Griechischen: Sophia Alexandridis