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#Lesestoff

16.05.2018

Alki Zei: Die Verlobte des Achilles

Alki Zei: Die Verlobte des Achilles
Bildquelle: Zeichnung: Yorgos Konstantinou

Taschkent: Hauptstadt von Usbekistan, über zwei Millionen Einwohner, ca. 4.500 km entfernt von Athen, Rom oder Paris, im selben Breitengrad von Kabul. Diese Stadt könnte eine der vielen unbekannten Großstädte Zentralasiens sein, hätte dort nicht eine große Gemeinde von Griechen gelebt; Mitte der 1960er Jahre zählte die Stadt ca. 35.000 griechische Migrant*innen, alle politische Flüchtlinge nach dem Ende des Bürgerkriegs.

Dafni, die Romanheldin von Alki Zei, folgt dorthin ihrem Verlobten, Achilles, einem Widerstandshelden. Der Mann, den sie dort trifft, ist jedoch ein ganz anderer als der, an den sie sich erinnerte. Ihre Distanzierung von ihm ist gleichzeitig auch die Distanzierung von ihrer gemeinsamen Ideologie und ihr Weg zur Unabhängigkeit. Die Verlobte des Achilles von Alki Zei war einer der erfolgsreichsten Romane der postdiktatorischen Literatur in Griechenland und wird in der Übersetzung von Birgit Hildebrand und mit einem Nachwort von Jannis Papatheodorou durch die Edition Romiosini neu veröffentlicht. Lesen Sie hier eine Szene aus dem Roman und folgen Sie der durch Athen irrenden Dafni.

Από την Edition Romiosini κυκλοφόρησε η Αρραβωνιαστικιά του Αχιλλέα (1987), το κορυφαίο μυθιστόρημα της Άλκης Ζέη, σε μετάφραση της Μπίργκιτ Χίλντεμπραντ και με επίμετρο του Γιάννη Παπαθεοδώρου.

Alki Zei: Die Verlobte des Achilles (Auszug)

Seit einem Jahr laufe ich jetzt so herum, mit einer Hirtentasche über der Schulter und einem sauberen Schlüpfer darin. Seit einem Jahr schlafe ich in fremden Häusern. Jeden Tag einer weniger. Sie haben Nina gefasst, Panos, Evjenios. Zehn kleine Negerlein, und eines ist übrig geblieben, ich, aus dem ganzen Kreis. Das ist das Schlimmste, ohne Freunde. Ab und zu treffe ich Lisa in aller Eile, um ein Kleidungsstück und Geld zu bekommen. Sie habe, sagt sie, gleich wenn man in die Diele unserer Wohnung kommt, auf dem Bücherregal die Fotografie des Vaters mit den Kriegsauszeichnungen aufgestellt. Ich solle nach Hause zurückkommen, und wenn sie zur Hausdurchsuchung kämen, hielte sie vielleicht der tote Albanienheld auf. Nichts wird sie aufhalten. Ich bin nicht die Tochter des Helden, ich bin die Verlobte des Banditen. »Wo übernachtest du heute?«, fragt Lisa beunruhigt. »Ich hab ’ was.« Nichts habe ich. Es ist Nachmittag, und ich weiß noch nicht, wo ich die Nacht verbringen werde. Ich weiß nicht, an welche Tür ich klopfen soll. »Kann ich? Nur für heute Nacht?« Ich habe an Ersis Tür geklopft. Mit Ersi habe ich zwölf Jahre die gleiche Schulbank gedrückt. Die Wochenenden haben wir miteinander verbracht, mal bei ihr, mal bei uns. Sie hat selbst die Tür aufgemacht und mich auf der Schwelle stehen lassen. Sie hat gesagt, sie hätte Angst. Sie hat nicht gesagt, meine Familie wird es nicht wollen. Nur: »Geh, geh.« Ich bin nicht gleich gegangen. Ich weiß nicht weshalb. »Ihr – ihr nehmt die Kinder und macht sie zu Janitscharen, ihr – ihr zerfleischt …« Ich bin weggegangen, ohne zu sagen: »Wir – uns stellt ihr an die Wand …« Ich habe eine Weile stumm vor der geschlossenen Tür gestanden.

In der ersten Volksschulklasse hatten am ersten Schultag zwei kleine Mädchen verängstigt abseits gesessen. Ersi und Dafni. Langsam, ohne dass wir es merkten, hatten sich unsere Finger miteinander verflochten. So blieb es zwölf Jahre lang. Nein, sie kam nicht mit, um an die Wände zu schreiben, aber sie half bei der Schulspeisung. Im Dezember ’ 44 trennten uns unüberwindliche Gräben. Sie blieb auf der Seite, auf der sich die Engländer und die anderen befanden. Als ich ihr später begegnete, erzählte sie mir von Eimern voll ausgerissener Augen. Ich dachte, sie hätte einen Schrecken bekommen, und es würde vergehen. Jetzt steht der Hass in Ersis Augen, der Hass in meiner Seele. Jetzt ist Dafni der Feind. Jetzt ist Ersi der Feind.

 

Es regnet. Einer dieser Athener Sturzregen. Ich gehe mitten auf der Straße, und ich bemühe mich nicht, zu rennen, unter irgendeinem Dach Schutz zu suchen. Der Regen gibt mir Sicherheit. Bei einem solchen Sturzregen kommt niemand, um einen festzunehmen. Am Körper werde ich nicht nass. Ich trage einen glänzenden gelben Regenmantel. »Ein sehr konspirativer Regenmantel, man sieht dich aus zwei Kilometern Entfernung«, hatte mich Panos aufgezogen, als ich ihn das erste Mal trug.

Meine Füße sind aber völlig durchnässt und meine Haare triefen. Ich gehe die Didotou–Straße hinunter. Die Straße ist verlassen. Welcher Irre ist auch bei einem solchen Regen unterwegs, außer einem Mädchen mit einem antikonspirativen gelben Regenmantel und einem sauberen Schlüpfer in der Tasche? Ich werde nach Kifissia gehen, zu Onkel Kostas. Nur muss ich dann noch zwei Stunden im Regen laufen, bis es dunkel wird. Onkel Kostas hat Angst, aber vielleicht lässt er mich dableiben, wenigstens heute Nacht. Bemitleidenswert werde ich aussehen, wenn ich so durchnässt vor ihm stehe. Nachts, wenn ich schlafe, wird er keinen Schlaf finden und darauf horchen, ob nicht jemand an die Tür pocht. Zwei Stunden im Regen! Ein Auto kommt die Straße herunter, platscht durch die Wassermassen. Ein Taxi. Es hupt neben mir, ich fahre zusammen. Eine Hand zieht mich hinein. Eine starke, warme Hand. »Keine Angst, keiner folgt mir, ich habe aufgepasst«, flüstert mir jemand zu. Es ist Sergej. Panos hatte ihn uns eines Tages auf einem Fest des griechisch–sowjetischen Vereins vorgestellt. »Hier bringe ich euch einen Russen aus Fleisch und Blut, damit ihr sehen könnt, wie sie sind.« Nach dem Dezember ’44, bis dann wieder die Verhaftungen und die Illegalität anfingen, ließen wir keine Gelegenheit aus, Feste zu feiern. Es handelte sich um einen Abend, der den sowjetischen Dichtern gewidmet war. Sergej, Journalist bei der Iswestija, hatte schon ein Jahr in Griechenland gelebt. Er hatte Griechisch besser gelernt als wir selbst, wie Panos bissig sagte. Nicht, weil wir alles liebten und bewunderten, was sowjetisch war – Sergej konnte man einfach nur gern haben, wenn man ihn einmal kennengelernt hatte. Er sah einem immer tief in die Augen. Mich mochte er besonders gern. »Du erinnerst mich an Olja.« – »Welche Olja?« – »Ein Mädchen, das in Leningrad während des Kriegs verhungert ist.«

Sergej sagt nichts. Er gibt mir ein großes dunkles Tuch zum Abtrocknen von Gesicht und Haaren, die vor Nässe triefen. Immer wieder wendet er den Kopf um und schaut nach hinten. Niemand folgt uns. Wir steigen an der Endstation aus, Acharnon–Straße. Vor uns ein Kafenion, Schönes Tinos. Sergej nimmt mich in den Arm, und wir treten ein wie ein Pärchen, das sich vor dem Regen schützen will. Ich schlottere von Kopf bis Fuß. Er bestellt Tee mit Schuss. Er schüttet mir zwei Gläschen Kognak in eine ausgelaugte Brühe, die man als Tee serviert hat. Er zieht mir den Regenmantel aus und nimmt meine Hände, um sie zu wärmen. Egal mit wie vielen Händen von Menschen ich in meinem Leben noch in Kontakt kommen werde, die Wärme von Serjoschas Händen werde ich nie vergessen. Er sieht mir in die Augen. »Ich habe dich von weitem erkannt. Der gelbe Regenmantel.« Sein Blick wird besorgt. »Wie geht es dir?« Ein tränenloses Schluchzen überkommt mich. »Ist etwas mit Achilles passiert?« Ich schüttle den Kopf. »Panos …«, beginne ich. Er unterbricht mich. »Ja, ich weiß.« – »Ihr werdet sehen, dass sie diesen Sergej speziell für uns so vollkommen angefertigt haben, damit wir glauben, alle Sowjetmenschen sind so wie er!«, hatte Evjenios damals gescherzt. Achilles hatte sich über den Scherz geärgert. »Alle Sowjetmenschen sind so«, hatte er ihm entgegen gehalten. »Bist du sicher?« Nach Jahren, bei Evjenios ’ zweitem Parteiausschluss, erinnerte sich jemand an diesen Satz. »Was machst du jetzt?«, fragt Serjoscha. Ich flüstere ihm zu, dass Achilles fortgegangen ist, dass ich mich hier und da herumtreibe, dass sie mich wohl demnächst festnehmen werden. »Nur Mut, Dafnoula«, sagt er, was kann er schon anderes sagen. Es ist gefährlich, länger hier sitzen zu bleiben. Wir müssen weiter. Jeder für sich allein. Ich mag mich nicht von der Stelle rühren. Er steht als erster auf. Zieht den Pullover aus und streift ihn mir über. Er kauft fünf Tafeln Schokolade aus dem Schaufenster des Kafenions, deren Papierhüllen vom langen Liegen vergilbt sind, und steckt sie mir in die Umhängetasche. Er umarmt mich heftig. Ich trete hinaus auf die Straße. Der Sturzregen ist zu Ende.

Der Kognak hat mich gewärmt, und Sergejs riesiger Pullover hüllt mich ein wie eine innige Umarmung. Es kann ja auch sein, dass Onkel Kostas mich für ein paar Tage bei sich aufnimmt. »Bleib zum Essen da, du kannst auch baden, wenn du willst, aber schlafen kannst du hier nicht … du verstehst.« Ich verstehe. Hinter den Türen von jedem Haus ist ein Zettel angeklebt. JEDWEDE BEHERBERGUNG EINER PERSON AUSSERHALB IHRES STÄNDIGEN WOHNSITZES IST UNTERSAGT. Darunter eine Erklärung des Hausherrn über Anzahl und Identität seiner Hausbewohner. Wird bei einer plötzlichen Hausdurchsuchung einer gefunden, der nicht auf der Liste steht, dann trägt derjenige die Verantwortung, der die Erklärung abgegeben hat. Onkel Kostas hat also durchaus Gründe zu zittern, wenn er mich sieht. Ich bade, ziehe den sauberen Schlüpfer an, wasche den anderen und hänge ihn dicht an den Ofen zum Trocknen. Zum Essen werde ich nicht bleiben; sobald der Schlüpfer halbwegs trocken ist, gehe ich wieder. Onkel Kostas geht auf und ab und wirft unruhige Blicke auf den Schlüpfer. Ich packe ihn noch fast nass ein und sage ihm Ade. Er küsst mich zitternd. »Sag Lisa … ich kann nicht … du verstehst.« Ich verstehe schon … aber dass er auch noch verlangt, dass ich ihn vor Lisa rechtfertige!

Ich werde nach Hause gehen, komme, was da wolle. Eine andere Lösung gibt es zumindest für heute Nacht nicht. Die Vorfreude darauf, mich in Lisas großem Bett zu verkriechen und mich sicherer zu fühlen, beschleunigt meinen Schritt. Ich werde mich entspannen, und Lisa wird meine Kleider zusammensuchen, die ich in ihrem wohlaufgeräumten Zimmer hier und da verstreut haben werde. Bevor ich den Hauptplatz von Kifissia erreicht habe, ist er mir schon ins Auge gefallen. Ein kleiner Mann mit einem schmalen Schnurrbart. Er verlangt meinen Ausweis. Den gebe ich ihm. Alles andere passiert dann ganz schnell. Er bringt mich auf die Wache, und dort übergeben sie mich einem Polizisten, der mich nach Athen zur Sicherheitspolizei begleiten soll, »zu einer genaueren Überprüfung«. Überprüfung! Das wissen doch alle: Verlobte des Achilles. Von der Hochzeit werden sie noch nichts erfahren haben. Eine junge Lehrerin in einem Dorf haben sie zum Tod verurteilt, weil sie ihrem Verlobten Essen gebracht hatte. Er war Kapetanios, Bandit wie Achilles. Sie haben sie exekutiert, weil sie keine Erklärung unterschreiben wollte, in der sie ihm abschwor.

Ich befinde mich mit dem Polizeibeamten in der Elektrischen und fahre nach Athen. Die Bäume rasen vorbei, als würden sie verfolgt. Es ist dunkel geworden, man kann nur die Silhouetten erkennen. Die Fensterscheibe ist zur Hälfte heruntergelassen. Es riecht nach Oleander und nach regendurchtränkter Erde. Ninas »erstes Mal« mit Panos, in einem Wäldchen, auf der regendurchtränkten Erde. »Es war göttlich«, hatte sie mir mit ihrer klangvollen Stimme erzählt. Der Frühling kommt. Wie viele Mädchen werden sich mit ihren Jungs auf die Erde legen zum Lieben? Aber es gibt auch die anderen Mädchen, die Verlobten der Partisanenführer, die auf die blutdurchtränkte Erde fallen. Wenn nur dieser Zug niemals in Athen ankäme.

Cut

Aus: Alki Zei, Die Verlobte des Achilles.
Berlin, Edition Romiosini, 2018.

Originaltitel: Η αρραβωνιαστικιά του Αχιλλέα (1987).
Aus dem Griechischen übersetzt von Birgit Hildebrand.