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#Lesestoff

07.10.2019

Kostas Kalfopoulos (Hg.): Hellas Noir. Griechische Kriminalliteratur aus dem 21. Jahrhundert

Kostas Kalfopoulos (Hg.): Hellas Noir. Griechische Kriminalliteratur aus dem 21. Jahrhundert

An Silvester 2017 wird ein drogensüchtiger Parkplatzwächter tot in seiner Wohnung gefunden, am Tag danach, dem Tag zwei des Jahres, verunglückt ein Star-Strafverteidiger. Hinter der darauf folgenden Mordserie vermutet die junge Kriminalkommissaranwärterin Olga Petropoulou ein mathematisch konstruiertes Mordkomplott. Was sie entdeckt, ist eine Kombination aus korruptem Staatsapparat, toxischer Männlichkeit, antiker Mathematik und weiblicher Freundschaft. Die Erzählung „An Deinem Namenstag werde ich da sein“ ist eine der acht Kriminalgeschichten, die im Erzählband Hellas Noir, der neuesten Publikation der Edition Romiosini, enthalten sind.

Το διήγημα του Τεύκρου Μιχαηλίδη «An Deinem Namenstag werde ich da sein» συμπεριλαμβάνεται στην ανθολογία αστυνομικών διηγημάτων Hellas Noir (2019), που κυκλοφορεί από την Edition Romiosini. Πρόκειται για διασκευή του διηγήματος «Περίπτωσις αυτοδικίας» που συμπεριλαμβάνεται στη συλλογή Ελληνικά Εγκλήματα 2 (Καστανιώτης, 2008).

An Deinem Namenstag werde ich da sein

1. Tag

Es war nach drei Uhr in der Früh. Die Festprogramme der Sender waren vorbei, und der kleine tragbare Fernseher übertrug ohne Ton Bilder aus verschiedenen Nachtclubs. Die junge Kriminalkommissaranwärterin »genoss« stoisch zum dritten Mal hintereinander ihre Silvesternacht auf der Wache. Wie üblich hatten ihre männlichen Kollegen sie reingelegt. So waren an diesem ersten Tag des Jahres 2017 die tonlosen Fernsehbilder und ein Band mit Erzählungen von Borges die einzige Gesellschaft für Olga Petropoulou, Absolventin der Polizeiakademie mit Auszeichnung. Im Nebenzimmer klingelte das Telefon.

»Es gibt eine Leiche in einer Wohnung in der Odos Kypseli. Wahrscheinlich Drogen. Ein Nachbar hat angerufen«, meldete sich der diensthabende Polizist Nikolas.

Fast freute sie sich. Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten. Einige Minuten später betrat sie mit Nikolas die elende Souterrainwohnung des alten Mietshauses. Alles darin roch nach Schimmel und Verwahrlosung. Gerade mal ein Zimmer, das Fenster halb über, halb unter dem Gehsteig, und eine winzige Küche mit Blick auf den Lichtschacht. Rücklings auf dem schmalen Bett lag bedeckt von einer schmutzigen Decke ohne Laken und mit herabhängendem Arm der Mieter der Wohnung und war ohne jeden Zweifel tot. Die vielen Einstiche an seinem Arm verrieten deutlich erkennbar die Ursache seines Todes.

»Er heißt – hieß – Dinos Angelou«, sagte der Nachbar, der die Leiche gefunden hatte.

»Er hat als Parkwächter an der Strandpromenade gearbeitet. Ein stiller Mensch, ein armer Teufel, muss sich schwergetan haben, über die Runden zu kommen. Bei der Miete – die Wohnung gehört mir – war er jedoch zuverlässig. Als wir nach Hause kamen – wir waren zur Silvesterfeier bei meiner Schwester – hörte ich die Tür im Luftzug schlagen. Ich fürchtete, dass er sie offengelassen hatte. Ich ging hinunter und … fand ihn.«

»Wissen Sie, ob er Besuch bekam, ob er Freunde hatte, Verwandte?«

»Was soll ich Ihnen sagen … Ich habe jedenfalls nie jemanden gesehen.«

»Okay. Kommen Sie morgen auf die Wache für ein Protokoll. Vielen Dank.«

Der Mann grüßte und verschwand.

»Nikolas, sag Bescheid, dass sie einen Krankenwagen schicken. In der Zwischenzeit können wir uns umsehen. Lohnt sich nicht, die Spurensicherung zu rufen.«

Tatsächlich wies die kleine Wohnung nichts von Bedeutung auf. Keine Spuren gewaltsamen Eindringens an Tür oder Fenster. In einer Schublade ein kleines Tütchen – eine Dosis Heroin – und einige Joints. Und auf dem Boden ein Fußballtotoschein mit einem Kreis um das Spiel 220, Juventus – Lazio …

Zurück auf der Wache schickte Olga eine Nachricht an alle Polizeireviere in Attika mit der Bitte um Auskunft über einen gewissen Dinos Angelou, Parkwächter an einem Nachtclub an der Strandpromenade und drogensüchtig. Danach ging sie ruhigen Gewissens nach Hause.


2. Tag

Als die Kommissaranwärterin Olga Petropoulou am 1. Januar 2017 um 10 Uhr abends zum Dienstantritt auf dem Revier erschien, fand sie einen großen braunen Umschlag von der Polizeiwache in Glyfada vor. Den hatte ihr Makis geschickt – ein Kommilitone von der Akademie.

»Frohes neues Jahr, liebe Olga,
habe Deine Nachricht gelesen und mich mit dem Freundchen beschäftigt, das Dich interessiert. Nichts Gravierendes. Der übliche Fixer und Dealer. Hat als Parkwächter an der Strandpromenade gearbeitet – zuletzt bei Boemissa. War bei den Staranwälten besonders beliebt als Zeuge bei Verkehrsunfällen. Erinnerst Du Dich an die Geschichte mit dem Knaben, der eine Frau überfahren hatte und liegen ließ. Angelou hat ausgesagt, dass es ihre Schuld war. Sie sei völlig unerwartet auf die Fahrbahn gesprungen, und der Fahrer habe nichts machen können. Der junge Mann – Spross einer großen wohlhabenden Familie – wurde freigelassen, und der Prozess schleppt sich von Vertagung zu Vertagung.

Seit einiger Zeit war Angelou von der Bildfläche verschwunden. Ich dachte, er wäre gestorben, aber ein Kollege meinte, sein Verschwinden hinge mit einem ›Geschäft‹ zusammen, bei dem er sich gesundgestoßen hätte. Wenn Du willst, gehe ich der Sache nach.

Küsschen

Makis«

Sie legte den Brief weg und schlug ihr Buch auf – Das Aleph von Borges. Das ging ihren Kollegen am meisten auf die Nerven. Nicht nur, dass sie – eine Frau – sich in »Männerangelegenheiten« einmischte, sondern sie war auch noch »kulturbeflissen«. Dass sie keine Sportzeitungen las, war okay, Frauen haben von Sport eh keinen Schimmer, aber Borges? Warum nicht eine Frauenzeitschrift, einen Herzschmerzroman? Olga war das egal. Sie hatte sich für die Polizeiakademie entschieden, obwohl sie mit ihren Noten auf jede Hochschule hätte gehen können, erstens um einen sicheren Arbeitsplatz zu haben und zweitens aus einer romantischen Neigung zu Abenteuern – wie hätte sie ahnen können, dass »Kommissarin« schlicht Sekretärin ohne feste Arbeitszeiten hieß. Ihr Gehalt deckte ihre bescheidenen Ansprüche – eine kleine Wohnung, Kino, ab und zu Theater, Bücher und einige CDs. Ohne besonders begeistert von ihrem Leben zu sein, war sie doch nicht unzufrieden.

Gegen drei Uhr morgens klingelte das Telefon. Kurz darauf erschien Nikolas: »Unfall auf der Umgehungsstraße in Polygono. Am Steuer war Konstantinos Alexis, der berühmte Strafverteidiger. Vermutlich ist er tot.«

Es war nicht einfach, sich dem Unfallort zu nähern, dort, wo die Umgehungsstraße zur Stadt abfällt. Der silberne Porsche war vom Kurs abgekommen und mit hoher Geschwindigkeit auf die Felsen neben der Straße geprallt und nahezu völlig zertrümmert. Olga nahm eine starke Taschenlampe, um den Wagen zu untersuchen. Alexis’ Gesicht war blutüberströmt, aber erkennbar. Die Vorderseite des Wagens hatte sich in die Fahrgastzelle geschoben. Die Fahrertür war blockiert. Unter dem Türgriff war ein Kratzer wie von einem Nagel. Beim genaueren Hinschauen erkannte sie die eingekratzten Zahlen: 2, 2, 0. Seltsam!

Bald erschienen die Übertragungswagen der Fernsehkanäle. Als Dauergast bei Talk–Shows und bekannt bei zahlreichen Beschuldigten, denen er zum Freispruch verholfen hatte, und mit einem bewegten privaten und gesellschaftlichen Leben war Konstantinos Alexis eine Person, die Interesse weckte und die Einschaltquoten erhöhte. So auch heute mit seinem unerwarteten, tragischen Ende. Nach einer Stunde war alles vorbei: Die Leiche war auf dem Weg zur Gerichtsmedizin und das Auto zu den Untersuchungslabors der Verkehrspolizei.


3. Tag

Die Staatsanwältin Evi Sidiropoulou hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Sie war unangefochten aus dem kürzlichen Justizskandal herausgekommen, auch wenn sie bis zum Hals drinsteckte. Auf mysteriöse Weise hatten die Zeitungen davon abgesehen, die Vorgänge zu untersuchen, die sie regelwidrig ins Archiv geschickt hatte, noch hatten sie die Haftentlassungen hinterfragt, denen sie zugestimmt hatte. Ihr Name war nicht einmal erwähnt worden. Ihre konsequente Absicherungspolitik und der kluge Umgang mit Menschen, der Einsatz von Finanzen und Informationen hatten sich einmal mehr ausgezahlt.

Auch ihre Beziehung zu dem Unternehmer Argyris Petridis, diese Liebe ihrer reifen Jahre, hatte sich prächtig entwickelt. Sie hatte ihn überredet, die Scheidung einzureichen, nicht weil sie besonders an einer Heirat interessiert war, sondern weil sie zu jenen Frauen gehörte, die den totalen Triumph über ihre Geschlechtsgenossinnen genießen. Mit befriedigten Sinnen und einem neuen Diamantmedaillon am Hals verließ sie ihr Liebesnest und ging hinunter zum Kolonaki–Platz. Wir können also sicher sein, dass Evi Sidiropoulou in dem Moment, als ein Stück Marmor vom Balkon im ersten Stock des nahegelegenen Gebäudes hinabfiel, ihr den Schädel zertrümmerte und ihrem Leben ein Ende setzte, eine glückliche Frau war.

Olga saß im Büro vor dem kleinen tragbaren Fernseher. Sie hatte eben mit dem Labor der Verkehrspolizei gesprochen, und was sie erfahren hatte, brachte sie zum Nachdenken. Sie blickte gleichgültig auf die brasilianische Seifenoper, während sie geistig zu dem silbernen Porsche von Konstantinos Alexis und den manipulierten Bremsen unterwegs war, die ihn das Leben gekostet hatten.

»Es handelt sich eindeutig um Sabotage. Unabhängig davon, was wir bekannt geben werden«, hatte der Sachverständige gesagt und bedeutungsvoll gelächelt.

Plötzlich wurden die Fernsehtränen der verwaisten Carlita unterbrochen: Eine Sondermeldung! Voll telegener Erschütterung verkündete der Nachrichtenchef des Senders den Tod von Evi Sidiropoulou, einer herausragenden Dienerin der Justiz. Die Mattscheibe war überschwemmt von Bildern vom Unglücksort. »Und dies ist das tödliche Stück Marmor, das die bedauernswerte Staatsanwältin das Leben gekostet hat«, verkündete der Reporter. Zoom auf das Marmorstück. »Hier kann man die Blutspuren der unglückseligen Frau sehen …« Olga erstarrte. Ihre Augen blickten gebannt auf eine Ecke des Marmorstücks. »Das kann nicht sein, das bilde ich mir nur ein«, dachte sie. Sie versuchte, genauer hinzuschauen, aber die Kamera hatte schon umgeschwenkt. Sie verbrachte den restlichen Abend damit, geduldig die Nachrichtensendungen aller Kanäle zu verfolgen in der Hoffnung, dass sich ihr Verdacht bestätigte. Vergeblich. Sie schaltete den Fernseher aus und versuchte sich zu erinnern, wen sie im Polizeirevier Kolonaki kannte.


71. Tag

Sie war bei DJ Mike – bürgerlich Michalis Triantafyllou, ihrem Freund. Sie hörten Radio, während sie das Mittagessen zubereiteten: Musik – Werbung – Nachrichten.

»Ein Geheimnis umgibt den grausamen Mord an dem in der Athener Gesellschaft wohlbekannten Sakis Argyriou. Die Haushaltshilfe hat die Leiche entdeckt. Sie hat ihn mit durchtrennter Halsschlagader in seinem Bett gefunden, das Gesicht mit einer Rasierklinge zerschnitten. Es gibt keine Kampfspuren, so dass man davon ausgehen muss, dass das Opfer im Schlaf ermordet wurde. Fragen werfen auch die 220 Euro auf, die sich in frischen Banknoten auf der nackten Brust des Toten fanden. Die Polizei prüft alle denkbaren Optionen …«

Olga erbleichte und starrte stumm auf das Radio. Mike lachte.

»Ich dachte, meine geliebte Spürnase sei derartige Meldungen gewohnt.«

Keine Antwort.

»Meine Güte, stell Dich nicht so an. Ist wirklich kein Verlust! Weißt du, was für ein Schweinehund der Verstorbene war? Wenn ich das schon höre: ›ein junger Mann, wohlbekannt in der Gesellschaft‹! Soll ich dir sagen, was er war? Ein Zuhälter! Ich kannte ihn gut. Er tauchte in allen Lokalen auf, in denen ich gearbeitet habe. Er angelte junge Mädchen, tat so, als liebte er sie, bequatschte sie und reichte sie dann gegen Geld an reiche Lustgreise der sogenannten Gesellschaft weiter. Dass ich nicht kotze.«

»Erzähl mir, was du über ihn weißt.«

»Was ist denn mit dir los? Hörst du sowas zum ersten Mal?«

»Natürlich nicht. Aber da ist was … Erzähl mir, und ich erklär’s dir.«

»Der Herr war ein klassischer Gigolo. Er verkehrte in Jugendclubs und guckte junge Mädchen aus. Er sah gut aus und verstand es, charmant zu sein. Angel face haben sie ihn genannt. Die jungen Dinger haben sich in ihn verliebt. Der Arsch hat es verstanden, bei jeder den schwachen Punkt zu finden, um sie zu manipulieren. Ansonsten ging er auf Vernissagen, auf Galabälle, zu philanthropischen Veranstaltungen. Dort fand er verschiedene Geldsäcke, die bereit waren, für etwas frisches Mädchenfleisch teuer zu bezahlen. Herr Sakis steckte seine Courtage ein und wusste von nichts.

Nur einmal wäre er beinahe aufgeflogen. Kannst du dich an die junge Architektin erinnern, die letztes Jahr ermordet wurde? Wie üblich hatte er sie betört, und sie wurden ein Paar. Sie trafen sich in einem Liebesnest in Chalandri. Als ein geeigneter Kunde gefunden war, ein Großunternehmer, dem es Spaß machte, junge Mädchen zu vergewaltigen, wurde das Geschäft eingefädelt. Eines Tages erschien das Mädchen in dem Liebesnest im Glauben, dass wie üblich ihr Liebster auf sie wartete. Es wartete der Vergewaltiger. Die Kleine hatte Mumm und wehrte sich. Je mehr sie kämpfte, desto mehr erregte ihn das, bis er schäumte. Bis er sie schließlich in dem Gerangel oder aus Wut, dass sie ihm nicht zu Willen war, umbrachte. Die Nachbarn erschraken von dem Lärm und verständigten die Polizei, aber er konnte noch rechtzeitig flüchten. Allerdings ließ er Spuren zurück, die seine Identität verrieten. Alles war sonnenklar. Auch die DNA–Untersuchung bestätigte, dass er der Mörder war. Aber dann übernahm ein Staranwalt die Sache. Er wusste, wo man schmieren und wo man erpressen musste – die haben so ihre Methoden – und der Herr ging frei aus. Es kam noch nicht einmal zum Prozess. Die Angelegenheit wanderte direkt ins Archiv. Kein Grund also, sich um Argyriou zu grämen. Man hat ihn zu Recht ins Jenseits befördert.«

»Ich gräme mich nicht wegen Argyriou.«

»Sondern?«

»Die 220 Euro gehen mir nicht aus dem Sinn.«

»Wie bitte?«

»Eine lange Geschichte. Wird dir verrückt vorkommen. Lass uns zu Tisch gehen, bevor das Essen kalt wird, dann erzähl ich’s dir …«

In den folgenden Tagen fand Olga keine Minute lang Ruhe. Entweder telefonierte sie oder surfte durch seltsame Internetseiten wie Math-world und Plus.maths, oder sie zog durch die Uni und sprach mit Mathematikprofessoren. Dann wieder traf sie sich mit Menschen aus dem Nachtleben, mit Türstehern, Ganoven und manchmal mit Polizisten aus Revieren in Glyfada, Kolonaki, Chalandri. Tag und Nacht hockte sie beim Untersuchungsteam der Verkehrspolizei und im Archiv der Mordkommission. Unter Einsatz ihres Charms gelang es ihr, Antworten auf Fragen zu bekommen, ohne zu erklären, warum sie sie stellte.

Eine Woche später bat sie um einen Termin beim Chef. Der empfing sie mürrisch. Diese junge Frau konnte er nicht ausstehen. Schon ihr Anblick ging ihm auf die Nerven.

»Was gibt’s, Petropoulou?«, fragte er unfreundlich.

»Es geht um gewisse Verdachtsmomente hinsichtlich eines Mordes … von dem ich annehme, dass er passieren wird …«

»Dass er passieren WIRD! Aber sonst geht’s dir gut?«

»Ich habe solide Anhaltspunkte, dass am 22. Mai der Unternehmer Alkis Margionis ermordet wird.«

Der Vorgesetzte sah sie ironisch an.

»Aha? Und wo hast du das entdeckt? Im Kaffeesatz oder in den Karten?«

Olga ignorierte das.

»Erinnern Sie sich an den Fall einer Myrto Peristeri, die letztes Jahr in einem Liebesnest in Chalandri ermordet wurde?«

»Und?«

»Die Wohnung war auf den Namen von Sakis Argyriou angemietet, einem Zuhälter der Luxusklasse, der vor einigen Tagen ermordet worden ist. Wegen des Mordes an dem Mädchen wurde zunächst Alkis Margionis beschuldigt, ein Freund von diesem Argyriou. Der besorgte ihm Mädchen, damit er seine perversen sexuellen Vorlieben ausleben konnte. Ich habe im Archiv herausgefunden, dass die DNA–Analyse genau ihn als Täter überführt hat. Aber Margionis hat gestützt auf die Zeugenaussage eines Typs aus der Unterwelt ein Alibi bekommen und wurde auf freien Fuß gesetzt. Das Verbrechen hat man auf irgendeinen Einbrecher geschoben, und die Angelegenheit ist nach einiger Zeit im Archiv gelandet.«

»Red’ weiter. Ich frage mich, worauf das hinausläuft.«

»Am 1. Januar ist Dinos Angelou tot in seiner Wohnung gefunden worden, der Zeuge, der Margionis das Alibi besorgt hat: Er hatte ausgesagt, Margionis hätte sich zum Zeitpunkt des Mordes in einem Club an der Strandpromenade aufgehalten. Angelou ist an einer Überdosis Heroin gestorben.«

»Und weiter.«

»Am 2. Januar ist der Anwalt Konstantinos Alexis bei einem Autounfall umgekommen.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Alexis war doch der Anwalt, der Margionis’ Verteidigung übernommen hatte, als der wegen der Ermordung der Peristeri angeklagt wurde.

»Ja und?«

»Die Unfallursachen sind ziemlich unklar …«

Der Dienststellenleiter wusste, dass die Anweisung, den Vorfall nicht weiter zu untersuchen, von sehr weit oben gekommen war. Bei der Vielzahl an üblen Geschichten, in die der Tote verwickelt war, war es besser, nicht weiter in den Dingen herumzuwühlen. Er verwies sie also umgehend in die Schranken:

»Zweifelst du die Erklärung des Untersuchungsteams an? Sie haben klar gesagt: Un–fall. Bist du jetzt etwa Kfz–Sachverständige geworden? Okay, gibt’s sonst noch was?«

»Am 4. Januar ist die Staatsanwältin Evi Sidiropoulou getötet worden.«

»Die das Marmorstück auf den Kopf gekriegt hat? Hat man nicht den Unternehmer von der Baustelle nebenan verhaftet?«

»Ja, aber die Sidiropoulou war es, die die Akte Peristeri in die Ablage befördert hat.«

»Na und? Die Untersuchung hat halt nirgendwo hingeführt. War das ein Grund, sie umzubringen?«

Jetzt kam der schwierigste Punkt.

»Am 12. März ist Sakis Argyriou, ein skrupelloser Zuhälter, auf besonders grausame Weise ermordet worden. Ich habe den Fall untersucht und …«

»Du hast den Fall untersucht? Seit wann untersuchst du jetzt von dir aus Fälle? Ist dir vielleicht irgendwas zu Kopf gestiegen?«

»Verzeihung, Herr Polizeidirektor. Ich will sagen, dass ich mich bei Kollegen über die Methoden dieses Argyriou erkundigt habe: Er ging Beziehungen zu verschiedenen Mädchen ein, verabredete sich mit ihnen, und die fanden dann statt seiner ihren Vergewaltiger vor. Im Falle der Peristeri ist die Sache schief gegangen. Der Vergewaltiger wurde zum Mörder.«

»Was willst du damit sagen, Petropoulou? Dass Peristeris Geist erscheint, um sich zu rächen? Liest du solchen Scheiß in den dicken Büchern, die du hier anschleppst?«

»Ich meine, wenn meine Überlegungen zutreffen, dann gibt es jemanden, der nach und nach alle umbringt, die er für den Tod der Peristeri und die Straffreiheit des Mörders für verantwortlich hält. Margionis ist jetzt noch übrig. Ich glaube, dass sein Tod für den 22. Mai geplant ist.«

»Hör mal zu, Mädel. Die Justiz hat den Vorgang Peristeri ins Archiv geschickt. Es ist nicht unsere Angelegenheit, das zu beurteilen. Was die übrigen Vorfälle angeht, die du erwähnst: Es gibt nur einen Mord, den an Argyriou. Um den kümmert sich die Mordkommission. Die anderen Tode sind Unglücksfälle. Niemand wird dich ernstnehmen, wenn du jetzt die Pythia spielst und Morde ankündigst. Wann, sagtest du, soll der nächste stattfinden?«

»Am 22. Mai.«

Er lachte:

»Vormittags oder nachmittags? Oder kennst du auch die Uhrzeit? Also ehrlich, wie bist du denn darauf gekommen?«

Olga sammelte ihre Kräfte.

»Um Ihnen meine Überlegungen verständlich zu machen, muss ich erklären, was befreundete Zahlen sind. Pythagoras …«

»Der Verseschmied?«

»Nein, der Mathematiker. Pythagoras nannte die Zahlen befreundet, die …«

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Okay. Ich hab’ jetzt genug Zeit mit dir vertan. Geh an deine Arbeit und überlass die Ermittlungen den richtigen Polizisten. Also wirklich, Pythagoras …«

Da fasste Olga ihren Entschluss. Vielleicht war es besser so. Die Anspannung löste sich. Sie sagte mit seltsam fester Stimme:

»Sie haben Recht, Herr Polizeidirektor. Tut mir leid, dass ich Sie unnötig aufgehalten habe. Das wird nicht wieder vorkommen. Auf Wiedersehen.«

Und sie verließ das Büro und schloss geräuschlos die Tür.


142. Tag

Sie erwachte vom Telefonläuten. Nach ihrer Nachtschicht hatte sie sich im Morgengrauen hingelegt. Jetzt setzte sie sich auf. Das Läuten wollte nicht aufhören. Schließlich hob sie den Hörer ab.

»Hallo.«

»Frau Kommissaranwärterin, ich bin’s, Nikolas vom Revier. Guten Morgen. Entschuldigen Sie die Störung, aber der Chef bittet Sie, so schnell wie möglich in das Hotel Eros zu kommen, hinter dem Bahnhof. Ein Verbrechen ist geschehen, und er bittet Sie dorthin.«

Na, so was! Die Leuchtziffern auf dem Handy zeigten den 22.5. Wenn schon der Chef nach ihr rief … Wie durch Zauberhand war ihre Müdigkeit verflogen.

»Okay, Nikolas, ich mache mich auf den Weg.«

 Das Hotel Eros war ein schäbiges Gebäude in einer Sackgasse. Ein Polizist führte sie in das Zimmer 220, wo der Mord geschehen war. Der Chef empfing sie an der Tür. Auf einmal säuselte er:

»Du hattest doch Recht. Schau dir die Leiche an, und dann reden wir darüber.«

Auf dem durchgelegenen Hotelbett lag der Unternehmer Alkis Margionis, tot, splitternackt und blutüberströmt. Zwischen den Schenkeln klaffte an der Stelle seiner Genitalien eine fürchterliche Wunde. Die Genitalien selbst waren sorgfältig in seinen Mund gestopft worden, so dass der Penis herausstand wie eine billige Zigarre. Sie blieb eine Zeitlang reglos stehen, bis sie sich an den Anblick gewöhnt hatte. Danach warf sie stumm einen fragenden Blick auf ihren Chef.

»Der Portier der Frühschicht hat uns verständigt. Der hat die Leiche gefunden. Natürlich wird das die Mordkommission übernehmen, aber jeder Beitrag, den wir leisten können, wird uns zugutekommen.«

Olga sagte nichts.

»Verstehst du, was ich meine?«, insistierte der Chef.

Olga setzte die harmloseste und ratloseste Miene auf, die ihr möglich war.

»Nein.«

»Wie, nein? Hattest du nicht vor einigen Tagen diesen Mord vorausgesagt? Du hast irgendwas Seltsames mit Zahlen gesagt, aber nun ist, wie von dir vorausgesagt, heute früh, am 22. Mai, Margionis ermordet worden. Sag mir, was du weißt, und dann sehen wir schon, wie wir weiter vorgehen werden. Wir beide werden mit Gewinn aus dieser Sache herauskommen.

Olga versuchte gar nicht erst, den ironischen Ton ihrer Stimme zu verbergen:

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe Ihnen in der Tat vor einiger Zeit von einem gewissen Verdacht erzählt, den ich hatte. Sie haben mir gesagt, dass ich mich um meine Arbeit kümmern und die Recherchen den richtigen Kriminalisten überlassen soll. Sie hatten vollkommen Recht. Ich habe mich an Ihre Anweisungen gehalten. Ich sehe nicht, was ich sonst noch tun sollte.«

»Jetzt stell dich nicht so an, Petropoulou. Okay, neulich war ich etwas unwirsch zu dir, aber gib zu, dass du mir verrücktes Zeug erzählt hast. Du hast dich lediglich auf irgendwelchen mathematischen Scheiß berufen. Aber jetzt haben wir einen Mord, der uns das, was du erzählt hast, mit anderen Augen sehen lässt.«

»Auch jetzt kann ich das, was ich sagte, nicht beweisen. Sie hatten Recht. Es waren krause Gedanken, die ausschließlich meinem Mangel an Erfahrung zuzuschreiben sind. Wir lassen das besser ruhen.«

»Sag mal? Hast du vielleicht vor, mich zur Seite zu drängen, damit du alle Auszeichnungen einheimst? Schlag dir das aus dem Kopf! Du wirst deinen Namen nicht mal im Kleingedruckten der Zeitungen wiederfinden. Während ich dich als meine rechte Hand präsentieren, zur Beförderung vorschlagen und unterstützen werde.«

»Nein, Herr Polizeidirektor. Was ich damals erzählt habe – Sie hatten Recht – das war Unsinn.«

»Ich will nicht hoffen, dass du von irgendwelchen Spielchen mit den Journalisten träumst. Das wird übel ausgehen. Die Sender werden sich gesundstoßen, aber dich wird der Teufel holen. Man wird dich auf die Insel Gavdos schicken, da kannst du Ziegen bei der Geburt helfen.«

»Ich habe nicht vor, den Verdacht, den ich vor einigen Monaten hatte, irgendwo zu enthüllen, noch, wie ich darauf gekommen bin. Haben Sie nicht selbst gesagt, das sei Frauenquatsch? Ich respektiere und akzeptiere das. Sie … haben mich überzeugt.«

Selbst der holzköpfigste Bulle hätte die Ironie spüren können. Doch der Polizeidirektor unternahm noch einen weiteren Versuch.

»Sei doch nicht so stur, Petropoulou, du wirst es bereuen. Sag mir, was du weißt, und ich beurteile dann, was Quatsch ist und was nicht. Zwing mich nicht, dich wegen Verweigerung der Mitarbeit vor den Disziplinarausschuss zu bringen. Ich könnte dich sogar wegen Begünstigung eines Verbrechers anklagen.«

»Das verstehe ich nicht, Herr Polizeidirektor. Sie wollen mich anklagen? Sie wollen anzeigen, dass ich Sie vor der Ermordung eines herausragenden Mitglieds der griechischen Gesellschaft gewarnt habe und dass Sie das ignoriert haben? Wer wird denn bei einer solchen Anzeige Ärger kriegen?«

Der Chef bekam vor Wut einen roten Kopf. Doch die Ankunft der Mordkommission beendete die Diskussion.


248. Tag

Olga erreichte den Friedhof von Zografou in aller Frühe, als er gerade öffnete. Der Tag war kühl. Am Vortag hatte es geregnet. Die ansteigenden Wege des Friedhofs waren glitschig und abweisend. Aber Olga schritt jedoch entschlossen voran, ihren Bedenken und der Kälte zum Trotz. Zum Umkehren war es jetzt zu spät. Außerdem riskierte sie allenfalls einen vergeudeten Vormittag. Nachdem sie ziemlich lange gesucht hatte – für den Nichteingeweihten gleichen sich alle Quartiere der Totenstadt – fand sie es: Ein schlichtes Grabmal, eine Einfassung aus Marmor, feiner weißer Kies und ein einfaches Kreuz mit dem Namen: Myrto Peristeri, 24 Jahre. Sie stellte sich hinter ein hohes gemauertes Grab, das den kalten Wind abhielt, und wappnete sich mit Geduld. Vielleicht würde sie den ganzen Tag warten müssen. Und wahrscheinlich umsonst, dachte sie.

Nach drei Stunden sah sie sie. Sie war verblüfft – sie hatte einen Mann erwartet. Sie war jung, so um die dreißig, vielleicht etwas jünger. Hochgewachsen, schlank, die glatten braunen Haare ganz kurz geschnitten. Sie trug eine braune Cordhose, eine dicke Wolljacke und eine Baskenmütze. Ihr schönes, wenn auch hartes Gesicht wies keine Spur von Schminke auf. In den Armen trug sie einen riesigen Strauß Chrysanthemen. Sie legte ihn auf das Grab und verharrte lange reglos, in Gedanken versunken. Einmal hob sie den Handrücken ans Gesicht, als wischte sie eine Träne ab. Sie legte die Hand auf das Grabkreuz, um den eiskalten Marmor zu fühlen. Mit dem Finger fuhr sie über die eingemeißelten Buchstaben des Namens, als wolle sie ihn mit dem Tastsinn lesen. Dann wandte sie sich ab, um zu gehen. Olga trat auf sie zu.

»Haben Sie sie sehr geliebt?« fragte sie.

Trotz des anfänglichen Erschreckens kamen der jungen Frau die Worte spontan auf die Lippen, als hätten sie seit langem auf die Gelegenheit zur Erlösung gewartet.

»Wie niemanden sonst auf der Welt«, brach es aus ihr hervor. »Sie war meine Freundin, meine Schwester, mein zweites Ich. Wir sind im selben Viertel aufgewachsen, zusammen in die Schule gegangen, haben zusammen gespielt, zusammen gelacht, zusammen geweint. Wir waren unzertrennlich: In der Schule haben uns Schüler wie Lehrer geneckt. Ersi und Myrto. Elytis’ Mädchen. Das Studium haben wir beide in Thessaloniki absolviert. Sie Architektur und ich Physik. Zusammen haben wir eine kleine Wohnung in Evangelistria bezogen. Alles haben wir geteilt. Selbst bei den Flirts hat sich jede die Zustimmung der anderen geholt. Und dann …«. Sie verstummte plötzlich.

»Und dann haben Sie im Namen der Freundschaft nicht gezögert, sogar zu töten. Sie haben die Gesetze der Gesellschaft missachtet und sind zur Mörderin geworden, weil sie dem Gesetz des Herzens gehorchten.«

Ersi erbleichte.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Ich heiße Olga Petropoulou. Bin Polizistin, auch wenn das nichts Besonderes bedeutet. Es ist kalt. Wollen wir nicht irgendwo hingehen, um was Warmes zu trinken und miteinander zu reden?«

»Aber …«, setzte Ersi an. Plötzlich fasste sie einen Entschluss. »Wie Sie wollen. Im Übrigen, welche Bedeutung hat das jetzt

noch …«

Sie verließen den Friedhof und gingen die Fahrstraße hinunter. In einer Nebenstraße fanden sie ein kleines Café, das wie von der Zeit und den Menschen vergessen wirkte. Terrazzofußboden, stellenweise geborsten, viereckige Holztische und Stühle mit Strohgeflecht; an den Wänden vergilbte Reklameposter aus den 60er Jahren. Ein Ober undefinierbaren Alters mit einem riesigen, vom Rauchen gelben Schnauzbart servierte ihnen Kaffee.

Olga begann ohne große Einleitung: »Vier Menschen, augenscheinlich ohne Verbindung untereinander, haben ihr Leben auf alles andere als natürliche Weise verloren. Die Tode geschahen am 1., 2., 4. und 71. Tag des Jahres. In der Nähe jeder Leiche fand sich, jedes Mal auf verschiedene Weise platziert, dieselbe Zahl: 220. Umrandet auf einem Totoschein, in die Tür eines Porsche geritzt, mit Bleistift auf einen Marmorblock geschrieben, in Geldscheinen auf Argyrious Leiche. Allmählich bekam ich den Verdacht, dass die 220 eine Art Botschaft war. Als wollte jemand die Taten auf eine Art signieren, die nur Eingeweihte verstanden. Nach dem vierten Mord habe ich herausgefunden, dass alle vier Toten entweder etwas mit dem Mord an Myrto Peristeri zu tun hatten oder mit der skandalösen Freilassung ihres Mörders.

Ich begann systematisch danach zu suchen, was die 220 bedeutete. Ich habe Bücher über Zahlenkunde, Zahlenorakel,Mystizismus gewälzt. Ich bin in Bibliotheken gegangen, war Tag und Nacht im Internet unterwegs. Schließlich bin ich auf etwas gestoßen. Es erschien unwahrscheinlich, verrückt, aber es ergab einen Sinn. Die befreundeten Zahlen des Pythagoras. Die 1, die 2, die 4, die 71 und die 142 sind die echten Teiler, die »Bestandteile« von 248. Ihre Summe beträgt 220. Andererseits sind die Zahlen 1, 2, 4, 5, 10, 11, 20, 22, 44, 55, 110 die Teiler, die »Bestandteile« von 220. Deren Summe ergibt 248! Diese besondere und fast einzigartige Beziehung zwischen 220 und 248 – die Teile der einen ergeben die andere und die Teile der anderen ergeben die erste – wurde von Pythagoras als arithmetische Verkörperung der wahren Freundschaft angesehen. An den Tagen also, die den Teilen der einen Zahl entsprachen, an den Tagen 1, 2, 4 und 71, starben der Reihe nach auf gewaltsame Weise all die, die entweder in den Mord an Myrto Peristeri verwickelt waren oder in die Freilassung ihres Mörders. Es schien, als signierte jeweils dieselbe Zahl diese Tode: die 220. In meinem Kopf entstand ein verrückter Gedanke: Jemand, der Myrto sehr liebte, bestrafte auf diese Weise alle Personen, die ihr geschadet hatten. Jemand, der mit ihr durch einen Freundschaftsschwur verbunden war, rächte ihren Tod. Es fehlte noch eine Zahl, die 142, und ein Schuldiger, der wichtigste. Der Mörder selbst! Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und suchte meinen Chef auf. Ich erläuterte ihm meinen Verdacht, dass am 22. Mai, dem 142. Tag des Jahres, die Mordserie mit der Bestrafung von Alkis Margionis abgeschlossen sein würde. Er nahm mich nicht ernst, schmiss mich sogar ziemlich unsanft hinaus. Irgendwann begann ich selbst an meiner Idee zu zweifeln. Bis am vorbestimmten Datum Alkis Margionis in Zimmer 220 eines billigen, anrüchigen Hotels ermordet aufgefunden wurde. Sie hätten das Gesicht meines Chefs sehen sollen, als er feststellte, dass sich meine Voraussage erfüllt hatte.

Der Rächer, die 220, hatte sein Werk beendet. 1+2+4+71+142 = 220. Ende! Die Bestandteile der 248, der schuldlos ermordeten Myrto Peristeri, waren wieder aufgetaucht und hatten durch die 220, ihr zweites Ich, Rache genommen. Und dann schoss mir ein weiterer verrückter Gedanke durch den Kopf. Vielleicht wollte die 220 die 248 ein letztes Mal aufsuchen, um ihr mitzuteilen, dass sie Gerechtigkeit geübt hatte. Ein Vorgehen, bei dem die Symbolik derart dominant war, ließ einen solchen Abschluss erwarten. Mir wurde also klar, dass meine einzige Hoffnung, die 220, den Rächer, kennen zu lernen, darin bestand, ihren Besuch an Myrtos Grab abzuwarten. Und der geeignetste Tag dafür wäre der 284. Tag des Jahres, der 11. Oktober, also heute. Anscheinend habe ich nicht danebengelegen…«.

Ersi öffnete ihre Tasche, entnahm ihr eine Zigarette und zündete sie mit fahrigen Bewegungen an. Sie nahm zwei tiefe Züge, musste husten, trank einen Schluck Kaffee und begann mit neutraler, heiserer Stimme zu sprechen.

»Wie ich Ihnen gesagt habe, waren wir von klein auf unzertrennlich.Eine Lehrerin am Gymnasium, Kyria Eleni – Gott hab sie selig – erzählte uns die Geschichte von den befreundeten Zahlen des Pythagoras. Sie erklärte, wie selten es sei, dass zwei Zahlen durch Freundschaftsbande verbunden seien, dass nämlich jede aus der Summe der Teiler der anderen bestehe. Sie war eine begnadete Lehrerin. Sie verstand es, Geschichten einzusetzen, um uns zum Arbeiten zu bringen, ohne zu meckern. Kaum hatte sie von den befreundeten Zahlen des Pythagoras erzählt und uns das erste Paar verraten, 220 – 248, als die ganze Klasse – 25 Siebtklässler – sich daran machten, das nächste zu suchen. Erstaunt verfolgten unsere Eltern, wie sich ihre Sprösslinge begeistert auf endlose Divisionen und Additionen stürzten, Papiere beschrieben, durchstrichen, zusammenknüllten. Eine Woche reichte, um uns von der Seltenheit der Freundschaft zwischen Zahlen zu überzeugen. Einige fragten, ob das Paar 220 – 248 das einzige sei. ›Nein‹, antwortete Kyria Eleni, ›es ist selten, aber nicht einzigartig. Es gibt noch weitere. Sucht nach dem Freund von 1184.‹ Von dieser ganzen Geschichte blieben die Spitznamen an uns haften. ›Hallo 220‹, sagten sie lachend zu mir, wenn sie mich allein antrafen. ›Wo ist die 248?‹. Wir nahmen das für uns selbst an. Ich unterschrieb die Zettelchen, die ich ihr während des Unterrichts schickte, mit 220, und sie antwortete mit 248. Am 11. Oktober jeden Jahres wünschte ich ihr alles Gute und überreichte ihr ein Geschenk, als wäre es ihr richtiger Namenstag. Sie machte dasselbe am 8. August, dem 220. Tag des Jahres. Deshalb bin ich heute gekommen, um ihr Blumen zu bringen …«

Ihre Stimme brach.

»…Es ist ihr Festtag.« Sie zündete eine zweite Zigarette an und fuhr fort:

»Ich sagte Ihnen, dass wir uns sogar bei unseren Flirts gegenseitig um die Meinung baten. Bis Sakis in Myrtos Leben trat. Wir waren wieder in Athen. Sie arbeitete in einem Architektenbüro, während ich ein Aufbaustudium begann. Vom ersten Moment an konnte ich ihn nicht ausstehen. Er war hübsch und wusste zu gefallen, aber irgendetwas an seiner Art gefiel mir nicht. Er war zu fürsorglich, um ehrlich zu sein. Ich habe Myrto meine Vorbehalte gesagt. Zum ersten Mal hat sie mich ignoriert, ja es kam sogar zu einer Abkühlung zwischen uns. Sie war total verblendet aus lauter Verliebtheit. Er hatte sie sich unterworfen. Einmal habe ich sie gefragt, welcher Arbeit Sakis denn nachgeht, worauf sie drei Tage nicht mit mir redete. Später fand ich eine Stelle bei CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, und zog nach Genf. Wir schrieben uns weiter, immer unter unseren Namen 220 und 284. Sie beschrieb mir Sakis wie einen Gott. In ihrem letzten Brief schrieb sie, ich sollte mich darauf einstellen, Trauzeugin zu werden. Und dann erfuhr ich, dass man sie umgebracht hatte.

Ich verfolgte die Entwicklungen aus der Nähe. Habe auch selbst gewisse Recherchen angestellt. Alle Welt kannte die Rolle von Sakis und Margionis’ Perversionen. Niemand in den Nachtclubs hatte Zweifel, wie die Sache gelaufen war. ›Und trotzdem wirst du sehen, dass beide ungeschoren davonkommen‹, sagte ein Barmann, der mein wichtigster Informant war. Er sollte Recht behalten! Ich hatte nie eine besondere Hochachtung vor unserer Justiz, aber ich hätte nie erwartet, dass es so weit kommen würde, zur Freilassung eines überführten Mörders, ohne jeden Prozess. Vonseiten der Medien wurde die Angelegenheit begraben.

Als ich erfuhr, dass die Sidiropoulou den Fall endgültig ins Archiv befördert hatte, fasste ich meine Entscheidung. Ich wollte alle zur Strecke bringen, angefangen von der Person mit der geringsten Schuld, diesem falschen Zeugen Angelou, bis zum Mörder Margionis. An den Tagen, die den Teilen von Myrto entsprachen, sollten alle der Reihe nach bezahlen. Ich kehrte nach Genf zurück und arbeitete meinen Plan sorgfältig aus. An Weihnachten kam ich nach Athen. Ich machte Angelous Wohnung ausfindig und lauerte ihm in der Silvesternacht auf. Ich fand ihn schlafend, er hatte schon seine Dosis genommen. Ich habe ihm reines Heroin gespritzt und bin verschwunden.

Am 2. Januar war dann Alexis dran. Ich folgte ihm seit dem Morgen und wartete auf den geeigneten Moment, um die Bremsen seines Wagens zu ›warten‹. Abends fuhr er zum Kartenspielen zu einem Haus in Psychiko. Sein Porsche parkte draußen. Die Straßen waren verlassen. Ich tat meine Arbeit, signierte und verschwand.

Bei der Sidiropoulou lagen die Dinge etwas schwieriger. Ich wusste von ihrem regelmäßigen Rendez–vous mit ihrem Liebhaber und hatte die Baustelle nebenan ausgemacht. Falls jemand neben ihr gegangen wäre, als sie vorbeikam, oder sie den Gehsteig gewechselt hätte, hatte ich eine andere Lösung parat. Aber zum Glück ging alles nach Wunsch. Ich ließ die Marmorplatte auf sie fallen, verschwand direkt zum Flughafen und nahm den Abendflug nach Genf.

Am 12. März kam ich zurück. Ich traf Sakis in einer Bar. Er erinnerte sich vage an mich, eine Freundin von Myrto, aber wir waren uns nicht oft begegnet – da ich ihn nicht mochte, vermied es Myrto, uns zusammenzubringen. Ich spielte die Rolle – perfekt, denke ich – des nächsten Opfers. Ich ließ ihn im Glauben, dass ich über Myrtos Tod nicht viel wusste, schließlich lebte ich ja im Ausland. Ich sagte ihm, ich sei einsam, ich versuchte, mich von einer unglücklichen Beziehung zu erholen, ich hätte mit meinen alten Cliquen gebrochen und meine Eltern verloren. Ich überzeugte ihn, dass ich die ideale Beute für ihn war. Das Scheusal ging sofort zum Angriff über. Er war wirklich geschickt. Aber ich machte es ihm auch leicht. Ich erzählte ihm von der unerträglichen Einsamkeit, die ich jedes Mal verspürte, wenn ich meine Wohnungstür aufmachte, und lieferte ihm so den geeigneten Vorwand, mich zu sich einzuladen. Ich tat, als würde ich zögern – wenn ich zu leicht nachgegeben hätte, hätte er vielleicht etwas geahnt – und sagte schließlich zu.

Wir gingen in seine Wohnung. Ich vermied es, etwas von dem Drink zu nehmen, den er mir servierte, während es mir gelang, ein starkes Schlafmittel in sein Glas zu schütten. Wir hatten Sex – ich gestehe, dass seine Leistungen hervorragend waren – danach schlief er dank des Mittels ein wie ein Schwein. Ich hatte ein Rasiermesser mitgebracht. Ich schnitt ihm die Halsschlagader durch und zerschnitt sein Gesicht – so machen es doch die Zuhälter mit den aufmüpfigen Mädchen? Ich legte ihm 220 Euro auf die Brust und verschwand. Im Morgengrauen ging ich hinaus auf die Straße, lief bis zum Syntagma–Platz und nahm die erste Metro zum Flughafen. Montagmittag war ich ganz normal in meinem Büro.

Sie sprach tonlos und kühl und bemühte sich sichtlich, die Details mit professioneller Sorgfalt zu beschreiben, ohne einen Punkt dunkel oder unklar zu lassen. Es schien, als beschriebe sie Handlungen, die zu irgendeiner, ziemlich entfernten Zeit durch jemand anderen ausgeführt worden seien.

»Einer blieb noch«, fuhr sie fort, »der letzte. Er war der schlimmste, derjenige, der Myrto mit eigenen Händen umgebracht hatte. Seinen Tod hatte ich für den 142. Tag des Jahres, den 22. Mai geplant. Ich erwartete diesen Tag voller Ungeduld. Ich wollte es endlich hinter mich bringen. Trotz der Befriedigung, die ich jedes Mal spürte, wenn ich diese Scheusale um die Ecke brachte, hatte sich allmählich eine Ermattung eingestellt. Nicht dass Sie denken, ich hätte das geringste Mitleid mit diesen üblen Subjekten. Ihre Hinrichtung musste unbedingt durchgeführt werden, und da die Justiz ihren Pflichten nicht nachkam, oblag es mir, sie zu ersetzen. Das war ich meiner Freundin schuldig aber auch all den anderen Opfern. Denken Sie nur, wie viele reiche Verbrecher die Dienste von Alexis und auch von der Sidiropoulou werden entbehren müssen. Sie werden andere finden, mögen Sie sagen. Okay, sie finden andere, aber die zumindest sind von der Bildfläche verschwunden. Denken Sie nur, wie viele junge Frauen jetzt vor Argyrious Klauen und vor Margionis’ schmutzigen Gelüsten verschont sind.

Ich bin am 21. Mai mit dem ersten Flug in Athen gelandet. Auf der Flughafentoilette habe ich mich umgezogen. Ich habe ärmliche, altmodische Kleider angezogen und mich abgeschminkt. Dann habe ich Margionis in seiner Firma aufgesucht unter dem Vorwand, Arbeit zu suchen. Ich habe eine Geschichte erfunden, dass ich angeblich aus dem Dorf seiner Herkunft stammte, dass alle dort sagten, was er für ein guter Mensch wäre, und dass ich deshalb hoffte, eine Stelle in einem seiner Unternehmen zu bekommen. Ich ließ nicht unerwähnt, dass ich allein auf der Welt sei und niemanden in Athen kenne: Ich sei gerade mit dem Zug am Larissa Bahnhof angekommen und habe ein Zimmer im erstbesten Hotel genommen, dem Eros Hotel. Ich gab ihm alle Details, Zimmernummer und Stockwerk. Das hatte ich alles schon bei meiner ersten Reise an Silvester recherchiert. Er machte mir Mut, versprach, bald eine Stelle für mich zu finden und mir bei der Wohnungssuche zu helfen. In der Zwischenzeit, riet er mir, sollte ich abends nicht ausgehen.

Es lag in seiner Hand, nicht zu kommen. Hätte er Reue verspürt, hätte er die geringsten Gewissensbisse gehabt wegen meiner Freundin, die er getötet hatte, und wegen all der anderen Mädchen, die er vergewaltigt hatte, hätte er keine Veranlassung gehabt, in meine Falle zu tappen. Ich war aber sicher, dass er kommen würde. Das hatte ich an seinen Augen abgelesen, die mich während unseres Gesprächs ständig lüstern angestarrten. Das hatte an seinen Fragen gemerkt: wo das Zimmer liege, ob ich wisse, wer noch auf dem Stockwerk wohne, ob die Rezeption am Eingang sei … Er bemühte sich, mich zu überreden, an dem Abend nicht auszugehen, sagte mir, wie gefährlich es sei auf der Straße … Er war entschlossen. Er kam von sich aus. Er hat kein Mitleid verdient, und ich habe ihm auch kein Mitleid erwiesen.

Ich ging gegen zehn ins Hotel, als der Nachtportier schon übernommen hatte. Dies Mal war ich auffällig gekleidet und geschminkt, um den Eindruck einer Frau mit laxen Sitten zu erwecken. Ich gab ihm ein kräftiges Trinkgeld und sagte, dass ich eine wichtige Person erwarte, die unbedingt Anonymität wahren müsse. Ich versicherte ihm, dass ich das Zimmer räumen würde, bevor seine Ablösung da sei. So könne er, wenn er wolle, die Vermietung nicht eintragen und das Geld für sich behalten. Es reiche wegzusehen, wenn ein Herr allein erscheine. Es war sicher nicht das erste Mal, dass man einen solche Gefälligkeit von ihm verlangte, aber vielleicht das erste Mal, dass man ihn so üppig dafür bezahlte. Er ging darauf ein, ohne Verdacht zu schöpfen. Wie ich gelesen habe, sagte er aus, er hätte nichts gesehen.«

»Ja, er hat eine Magenverstimmung vorgeschoben, die ihn zwang, häufig die Toilette aufzusuchen. So habe er nicht gemerkt, wie Margionis kam. Er hat außerdem noch behauptet, dass während seiner Schicht niemand das Zimmer 220 gemietet habe.«

»Ich war sicher, dass er beim Versuch, sich selbst zu decken, auch mich decken würde«, fuhr Ersi fort. »Margionis tauchte kurz nach Mitternacht auf. Er öffnete die Tür und trat ein, ohne anzuklopfen, im Vertrauen auf den Überraschungseffekt. Ein beschwichtigendes »sss«, war das einzige, wozu ich ihn kommen ließ. Bevor er irgendetwas tun konnte, fuhr ihm schon die Klinge durch den Hals. Ich schleppte ihn aufs Bett – er war schwer, das alte Schwein – und zog ihn aus. Dann schnitt ich ihm die Genitalien ab und gab sie ihm zu essen. Ich löschte das Licht, schloss die Tür und verschwand. Als man die Leiche entdeckte, saß ich bereits im Flugzeug in Richtung Schweiz.«

Olga wechselte spontan zum Du.

»Ich glaube, an deiner Stelle hätte ich dasselbe getan, wenn ich die Kraft dazu gehabt hätte. Ich nehme an, du fliegst heute Abend schon wieder in die Schweiz zurück.«

»Wirst du … wirst du mich nicht verhaften?«

»Ich? Natürlich nicht. Die Justiz kommt schon sehr gut allein klar. Sie braucht meinen Beitrag nicht. Aus einer wohl eher verzerrten Pflichtauffassung habe ich versucht, meinen Chef zu warnen, bevor der letzte Mord geschieht. Er hat es vorgezogen, mich zu ignorieren. Ich habe jetzt keinerlei Verpflichtung mehr, diese Geschichte in einer Weise zu beenden, die meinem persönlichen Rechtsgefühl derartig zuwiderläuft. Wenn ich heute auf den Friedhof gekommen bin, dann war es, um meine persönliche Neugier zu befriedigen und … um dir die Hand zu schütteln. Es klingt widersinnig, wenn ich sage, dass ich Myrto beneide, aber ich hätte auch gern eine Freundin wie dich.«

Sie stand auf, drückte Ersis Hand und ging ohne ein weiteres Wort.

Am 1. Januar 2018 kam Olga Petropoulou gegen acht Uhr morgens nach Hause. Wie üblich hatten sie ihr die Schicht am Silvesterabend aufgebrummt. Ziemlich gut gelaunt schloss sie ihren Briefkasten auf. Darin lag ein Umschlag ohne Absender. Sie riss ihn auf und fand eine geschmackvoll gestaltete doppelseitige Neujahrskarte. Auf der Außenseite standen die üblichen Glückwünsche auf Französisch. Die Innenseite war leer, bis auf zwei Zahlen, die in kleinen, geraden Ziffern ohne überflüssige Schnörkel geschrieben waren: 1184 – 1210.

Aus: Tefkros Michailidis, "An Deinem Namenstag werde ich da sein",
in: Kostas Kalfopoulos (Hg.), Hellas Noir.
Griechische Kriminalliteratur aus dem 21. Jahrhundert
,
Berlin, Edition Romiosini, 2019, S. 139-163.
Aus dem Griechischen übersetzt von Ulf-Dieter Klemm.