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#Lesestoff

22.03.2022

ex-libris-kotzias-cemog

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Für gewöhnlich präsentieren wir an dieser Stelle Auszüge aus kürzlich erschienenen Publikationen. Dieses Mal möchten wir jedoch eine Ausnahme machen: Wir präsentieren nicht ein, sondern fünftausend und ein Bücher! Denn 5.000 Bände umfasst die Schenkung der Bibliothek Alexandros Kotzias und Elisavet Kotzia an die Philologische Bibliothek der Freien Universität. Durch diese großzügige Schenkung aus der Bibliothek des Autors, Übersetzers und Literaturkritikers Alexandros Kotzias und seiner Tochter, der Literaturkritikerin Elisavet Kotzia, wird die Philologische Bibliothek zur bestausgestatteten Universitätsbilbiothek Deutschlands für die Erforschung der neugriechischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Aus diesem Anlass haben wir die Novelle von Alexandros Kotzias Jaguar in der Übersetzung von Hans Eideneier in unser Programm aufgenommen mit einem Nachwort von Vangelis Chatzivassiliou. Kotzias’ Novelle ist die Essenz seiner Auseinandersetzung mit den unlösbaren Fragen um Schuldige und Täter, um Gute und Böse, unter der Last der historischen Tragödie des »Griechischen Dreißigjährigen Kriegs« und wird bei dem offiziellen Akt der Schenkung im Rahmen unseres Bücherfestes am 14. Juni präsentiert.

Mε αφορμή την επίσημη τελετή δωρεάς της Βιβλιοθήκης Αλέξανδρου Κοτζιά και Ελισσάβετ Κοτζιά στη Φιλολογική Βιβλιοθήκη του Ελεύθερου Πανεπιστημίου του Βερολίνου, επανεκδίδουμε τη νουβέλα του Αλέξανδρου Κοτζιά Ιαγουάρος στα γερμανικά, σε μετάφραση του Hans Eideneier.

Alexandros Kotzias, Jaguar (S. 46-55)

[…]

Ich folge ihr, tauche auch in die Dunkelheit ab, versuche mit dem Fuß nach der nächsten Stufe zu tasten. Schon seit Jahren zerfrisst der Rost das Eisen, die verwitterte Treppe wackelt bei jedem Schritt bis auf den Grund, ich habe Angst, gleich mit ihr in die Tiefe zu stürzen. Der Platz ist vollkommen zugewachsen, Filio wird hinfallen, das ist der Schlund der Hölle, rufe ich ihr emphatisch zu – sie gibt keine Ant- wort – dass nur keine Schlange auftaucht! ich stoße einen Schrei aus und komme endlich heil auf den Steinplatten zu stehen. Die Nacht umfängt mich. Ich kann nichts sehen.

»Filio!«

Nirgends, das Miststück! … An der Mauer geht es weiter voran, Schritt für Schritt, tastend und fühlend. Der Modergeruch des Funda- ments steigt mir in die Nase – das kaputte Fenster zum Kohlenkeller. Da, die Falltür zum Untergeschoß – Vorsicht! Da, auch das Türchen zum Eingang – zugesperrt und verriegelt. Demnach befindet sie sich im Garten. Unsichtbar.

»Wo bist du?«

Kein Licht in den Häusern. Bloß dunkle Wände. Hier enden die Platten. Der Feigenbaum verdeckt mich zur Gänze, tiefschwarz. Als ob wir Verstecken spielten, rufe ich mit leiser Stimme:

»Wieso sagst du nichts? … Filio!«

Ich trete auf die Erde. Ganz vorsichtig. Versuche sie mit dem Fuß zu ertasten. Ein Schritt. Noch einer. Ich spitze die Ohren. Flüstere:

»Filitsa!«

Zögernd noch ein Schritt. Mit nach vorne gestreckten Händen su- che ich die Luft ab – blindlings. Zwei Schritte. Ich spitze die Ohren. Noch zwei. Ich suche in der Luft, rechts, links. Allmählich gewöh- nen sich meine Augen daran, die Nacht löst sich auf, man kann die milchigen Schatten jetzt von den finsteren unterscheiden. Die Bäume kreisen mich ein, die Büsche riesig. Wo hat sie sich vor mir versteckt?

»Hier bin ich, ich komme … Filio!«

Wieder ein Wetterleuchten, ich bin in der Nähe der Außenmauer. Ist sie über die Mauerkrone mit den Glasscherben gesprungen, hat die schwarze Nacht sie verschlungen? Ist sie zum Himmel aufgefahren?

… Teufel nochmal! Ein tiefer Ast hat sich in mein Bein gebohrt. Mei- nen neuen Strumpf kann ich vergessen! … soll er dich doch holen, Miststü …, hinter mir rührt sich etwas.

»Da bist du?«

Die trockenen Äste, das Reisig zirpen fast wie Grillen – sie springt neben mir vom Boden auf, die Ziege. Sie atmet schwer, wie asthma- tisch. Sie schüttelt immer wieder den Rock aus, streicht an den Hüf- ten hinunter – in der Dunkelheit hebt sich die weiße Bluse. Ich bin sprachlos, ich kann mich nicht einmal mehr aufregen! Weshalb war sie versteckt? … und wo? … Gleich neben der schmalen einteiligen Gar- tentür war während der Besatzung ein dichtes Gestrüpp aus dicken Ästen und Schilfrohr schräg auf die Außenmauer gefallen, verflochten mit längst verrostetem Draht – die Reste der Gartenlaube – Frau Ma- rousso hatte uns auch den Namen beigebracht: Pergola — die Onkel Sinon neben dem Brunnen gebaut hatte, um an den Sommernachmit- tagen hier seinen Kaffee zu genießen und mit Onkel Leonidas Tavli zu spielen. Die beiden unverheirateten Brüder schlugen im Unterhemd und mit frisch pomadisiertem Haar im Haarnetz die Spielsteine tak tak aufs Brett und strichen sich genüsslich über die feinen grauen Oberlippenbärtchen, bis es dunkel wurde; dann machten sie sich in weißen Seidenjacketts, rotweißen Halbschuhen und Strohhüten auf in Richtung Taverne in Sepolia oder ins Varieté der Oase im Zappeion– Park … Als in dem schlimmen Winter des Jahres ’41, in dem auch On- kel Sinon starb, der Sturm die Pergola wegfegte, brachte meine Mutter unter dem Schilfdach, das an der Gartenmauer lehnte, gebündelt den Spaten, die Schaufel, den Rechen unter, die Hacke, den Schlauch …

»Hier hast du dich vor mir versteckt, Filio? Du hast wohl Lust am Spielen!«

Es war unüberlegt, vom Spielen zu reden – sie zitterte am ganzen Leib, wie von einem Fieberanfall geschüttelt. Sie ist bestimmt nicht ganz bei Sinnen! Was sie wohl hat? Ich streichelte ihr die Hand. Sie zog sie zurück. Sie trat das Reisig bis zur Gartentür nieder. Versuchte sie zu öffnen.

»Du brauchst dich nicht zu bemühen, Filio, sie ist zugesperrt … und der Riegel ist eingerostet, ganz verkeilt.«

Sie beugt sich am Pfosten nach unten. Sie tastet im Dunkeln nach et- was, chru chru chru! »Wir hatten den Schlüssel im Loch hinterlegt …«

»In welchem Loch?« frage ich überrascht.

»Ein Ziegel ist lose … den habe ich immer weggeschoben.«

»Du irrst dich! Wir hatten den Schlüssel nie in einem Loch hinter- legt! Der Schlüssel war …«

»Doch. Du hast es nur nicht gewusst.«

»Diese Tür war immer zugesperrt! Und den Schlüssel hatten wir …«

»Hattet ihr nicht! Ich bin mit der Hand durchs Gitter gefahren, der Schlüssel war in dem Loch, ich habe aufgeschlossen. Das hast du nicht gewusst.«

Ich beiße mir auf die Zunge: ich habe es also nicht gewusst, du Flitt- chen! Du warst ein Loch, du Flittchen! … Das Gartentörchen schließt die kurze enge Sackgasse der Idipos-Straße ab, man biegt um die Ecke und hat die Kirche vor sich, kommt auf den Platz zum Kurzwaren- laden von Barba-Stavros Petridis … du Flittchen, willst du mir etwa weismachen, dass er dich vor der Heirat durchs Gartentörchen in un- seren Garten gelassen hat, dich auf das schräge Schilfrohr gelegt, dich auf dem Schlauchring gevögelt hat … es mitten im Schrecken der Be- satzungszeit mit dir getrieben hat, du Flittchen! Dass du ein derartig schamloses Loch warst, habe ich allerdings nicht gewusst!

»Stockfinster … wie in der Besatzungszeit«, sie hat sich aufgerichtet. Schüttelt wieder den Rock, die Beine, vielleicht um vor mir zu verber- gen, dass sie immer noch zittert.

In den Wolken, so tief, als berührten sie unsere Köpfe, breitet sich der rötliche Widerschein der Stadt aus. Überall rundum ihr diffuses Rauschen. Es riecht nach Regen, es blitzt. Instinktiv nähere ich mich ihrem Ohr und flüstere: »Nein … in der Besatzungszeit war es noch finsterer … noch schrecklicher, in den Nächten rührte sich nichts.«

Sie stieß mich weg; trat die trockenen Zweige nieder und erreichte trotz des Dunkels wie eine Fledermaus den Plattenweg.

Nervös rüttelt sie an der Klinke der Türe im Erdgeschoss. Ich hole sie ein, sie brauche sich nicht unnötig zu bemühen, sie sei von innen verriegelt.

»Das ist die Hintertreppe, hör auf!«

»Ich möchte ein bisschen herumlaufen.«

»Allein, so mitten in der Nacht! Das geht nicht, Filio, es ist zu spät!«

»Schließ auf!«, und sie schlägt ungeduldig auf die Türklinke.

Als ich gerade schwer auf die erste Stufe der Eisentreppe trat, beugte sich Ilias vom schwach erleuchteten oberen Treppenabsatz herunter: Die sei völlig morsch! Er werde zur Eingangstür herunterkommen und den Riegel aufschieben – dann solle er auch Filios Mantel und meine Jacke mitbringen, trug ich ihm auf. Filio wehrte eigensinnig ab: sie wolle das nicht; es sei ihr zu warm; es solle ruhig regnen!

»Bring meine Jacke!«

Wir erwarten ihn in der Dunkelheit. Reglos fixiert sie die Außen- mauer, als könnte sie mitten in der Nacht den Brunnen erkennen, das Gartentörchen, die abgerissene Gartenlaube ihres gesetzlosen Trei- bens. Sie solle beim Hinausgehen auf die Außentür achten, lasse ich sie im Voraus wissen, schon so viele Jahre tot, noch vor dem Krieg, und auf der Haustür über dem Türsturz das Bronzeschild, sein ehrba- rer Name: KIMON KALLIMANOPOULOS. Dieses Haus war … und ist … bei diesem Haus gibt es emotionale …

Wieder ein Blitz; ihre Zähne klappern: »Von dort aus bin ich raus- gekommen.«

Ich verstehe nicht. Ich frage sie.

»An dem Mittag, als die Glocken läuteten und die Deutschen abzo- gen … Tag und Nacht versteckt, ich hatte dort Unterschlupf gefun- den, bis die Glocken zu läuten begannen, eine nach der anderen, in ganz Athen.«

»In der Laube, der Pergola? Komm, Filio, was soll das, was redest du da! Träumst du?«

»Drei Tage und Nächte. Ohne Essen und Trinken, in der Nacht habe ich vor Kälte gezittert … es war Oktober, nachts war es lausekalt. Du und deine Mutter, ihr hattet davon nichts mitgekriegt.«

Ich war buchstäblich vom Donner gerührt. Zum Glück riegelte Ilias die Tür auf und uns empfing das Licht des Flurs, die Fliesen leuchte- ten rot und weiß. Ich atmete auf. Filio ging an ihren grauen Koffern vorbei, die an der Wand neben der Treppe aufgereiht standen, und knallte beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu. Ich riss Ilias meine Jacke aus der Hand: er solle essen und schlafen gehen, und nicht auf meine Rückkehr warten. Mit dieser Verrückten soll sich jemand aus- kennen … bis die das Papier unterschreibt, na viel Vergnügen!

 

• • •

 

Aber weshalb habe sie sich denn in unserem Garten versteckt? Und Fanis? Habe Fanis gewusst, dass sich Filio im Garten versteckte? ziehe ich sie am Arm, sobald ich sie eingeholt habe. Ich gehe neben ihr her. Wir sind auf den kleinen Platz eingebogen, er liegt ruhig da, halb im Dunkel, ringsum räudige Pinien und Eukalyptusbäume.

»Wer hat dich denn verfolgt? … weshalb hast du dich versteckt?«

Wir gingen hin und her über das Pflaster – ich immer hinter ihr wie ein treuer Schatten – zweimal umrundeten wir auch die klei-   ne Kirche. Am hölzernen Glockenturm blieb sie kurz stehen. Kein Mensch, nur der Milchladen an der Ecke erleuchtet. Das niedrige

Büdchen von Petridis, wo wir früher unsere Schönschreibhefte, Lutschbonbons, Haarnadeln, bunte Garnröllchen gekauft hatten, ist schon seit Jahren eine Reinigung – der Geruch von eingebügeltem Benzin sticht mir in die Nase – an Stelle der kleinen dunklen Latten ist dort jetzt ein Rollgitter aus Eisen, ein kleines Öllämpchen, jetzt mit Strom, verstrahlt im Inneren einen rötlichen Schimmer. Darü- ber ihre verfallene alte Wohnung, die Dachziegel sind eingebrochen, der Erker mit seiner kaputten Scheibenfront gähnt wie eine raben- schwarze Höhle.

»Und was hat Fanis an all diesen Tagen gemacht? Ich weiß es nicht mehr, was hat Fanis … wo war Fanis denn bei der Befreiung?«

In der nächtlichen Stille schwillt das Tosen der Lenormand-Straße an und kommt vor uns zur Ruhe wie die Welle am Strand. Es bringt nichts, ihr immer wieder Fragen zu stellen, die Ziege antwortet mir ja doch nicht – sie betrachtet versteinert das verfallene Haus. Ich be- komme langsam Kreuzschmerzen vom vielen Gaffen.

»Es ist schon spät, Filio …«, ich gebe ihr einen leichten Schubs – es ist sicher schon zehn vorbei, keine Menschenseele mehr auf der Stra- ße … im Dunkeln kann ich die Uhr nicht erkennen und außerdem habe ich die Brille in der Küche in meiner Tasche gelassen. »Lass uns gehen, Filio!«

Du wirst sehen, jetzt fängt sie gleich zu heulen an oder zu keuchen

– was geht es mich an! … soll sie mir doch von Schwägerin zu Schwä- gerin das Herz ausschütten, damit ich daran Anteil nehme. Plötzlich fährt sie erschrocken zusammen – hinter uns rattert mit einem Höl- lenlärm ein Dreirad mit einer riesigen Ladung von Steinen heran, rappelt über die eine Seite des Pflasters und verliert sich wieder im Dunkeln. Noch ein Blitz. Der Donner folgt ganz in der Feme – es wird gleich regnen, Filio, gebe ich zu bedenken … Die hölzerne Tür zum Hof ihres Hauses, direkt neben der Reinigung, ist mit einer Kette und einem Vorhängeschloss dreifach verriegelt.

Ach, seufze ich, das spürt auch Filio, sie merkt, wie sehr die emoti- onalen Bindungen zählen … sie sind nicht zu erschüttern; das Haus, in dem man geboren ist, wo man die Kindheit verbracht hat, seufze ich: ach! ach! … Möge sie darüber hinaus noch bedenken, dass im selben Haus Kallimanopoulos glücklich war … seine beiden jünge- ren Brüder, Onkel Sinon und Onkel Leonidas – die sind alle längst tot – in diesem Haus bin ich aufgewachsen, damals, als hier noch bis zum Fluss Gärten waren und Ziehbrunnen, jenseits des Flusses offene Wiesen. Hier auf dem Platz, auf dem Filio steht, hat man Kürbisse angebaut, Kohl, Artischocken … ich habe das als kleines Kind noch erlebt, ich weiß auch noch, wie die Flüchtlinge in ihren Lumpen anka- men, man steckte sie haufenweise in die Halle zur Tabakverarbeitung, ich erinnere mich noch gut an ihre selige Mutter – das haben uns die englischen und französischen Imperialisten eingebrockt, der gekaufte Venizelos, der uns mit seinem Sui–Generis–Gesetz ausgelöscht hat! – die Mutter hatte Thanos im Arm, als winziges Baby, ich weiß es noch

… ach, die sind alle längst tot, seufze ich auf.

Wie ein ersticktes Schluchzen – in der Dunkelheit bin ich nicht si- cher, vielleicht war es auch ein Aufstoßen. Ich streiche mir übers Haar

– wohl um meine Erinnerungen zu besänftigen; in diesem Augen- blick habe ich sie dringendst nötig.

Die selige Mutter, ich erinnere mich noch genau, und meine Stim- me wird zuckersüß – eine tüchtige Frau, eine tatkräftige Frau, sagte Kallimanopoulos immer – damals, als sie die Kirche bauten, krem- pelte die Selige die Ärmel auf und riss die Mauer im Erdgeschoß ein, hob in Nullkommanichts ihren Laden aus der Taufe, noch bevor sie Filios Vater heiratete, Barba-Stavros, ich war damals noch ganz klein, ich erinnere mich noch genau, noch bevor die meisten Häuser hier im Viertel gebaut wurden … Naja, ich bin auch in die Jahre gekommen, das lässt sich leider nicht verheimlichen! versuche ich ein Lächeln – ich war zwei Jahre älter als Fanis, und Ilias, erinnere ich mich mit ei-

nem Schauder, drehe mich erschreckt um und flüstere: »Filio, komm, lass uns gehen! Da ist jemand beim Milchladen, er schaut herüber«.

Sie setzt sich ganz langsam ohne ein Wort in Bewegung. Um gleich darauf vor der Baustelle nebenan wie erstarrt stehenzubleiben – noch so ein Mietshaus auf Tauschbasis in unserem Viertel, Wohnungen zu verkaufen. Jetzt schaut sie hoch zu ihrem einzigen Fenster an der Fas- sade, über Kreuz mit zwei Brettern vernagelt – jedes Mal, wenn sie damals vom Erker aus ihre Augen aufschlug, musste ihr Blick auf ei- nen Zipfel unseres Gartens fallen, auf den Aprikosenbaum, der jetzt verdorrt ist. Der Schmerz schnürt mir die Kehle zu:

»Ich mache dir keine Vorwürfe, Filio … du bist damals aus dem Haus weggelaufen, hast dein Kind gepackt wie … wie … wie. An dem Tag, als Fanis verurteilt wurde, hast du sie ohnmächtig sitzenlassen

… ich im Gefängnis, hast sie sitzenlassen und bist zurück in das Haus deines Vaters.«

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen – kein Schluchzen, kein Atmen – zur Salzsäule erstarrt. Ich erschrak. Der Unbekannte im Anorak steht noch vor dem Milchladen; er schaut herüber; ich neh- me meinen Mut zusammen, streiche ihr über den Rücken – warm ist er – sie hat noch nicht aufgegeben.

»Du hast Fanis und unsere Mutter ohnmächtig sitzenlassen … ich mache dir keine Vorwürfe! Aber haben dich denn ihre Tränen nicht umstimmen können, Filio?« und ich zeige auf das verfallene Haus über uns, als sie plötzlich die Hände herunternimmt und weitergeht.

»Was hast du gesagt, Filio? Ich habe dich nicht …« Sie redet mit sich selbst. Und geht weg.

»Wer? … was? ich habe dich nicht.«

»Verrat.«

In der Dunkelheit war ihr Flüstern deutlich und kurz wie das Zi- schen einer Natter. Ich erschaudere, gehe hölzern neben ihr her, drehe mich bei jedem Schritt zu ihr und versuche mit verstohlenem Blick


im Dunkel herauszubekommen, was für Geheimnisse ihr Profil ver- birgt – eine bildschöne Sphinx mit sieben Siegeln das Luder! – ich passe auf, nicht auf dem Pflaster zu stolpern, vor dem Milchladen ist der Unbekannte verschwunden. Gott sei Dank. Wir kommen an die Ecke, die nach Hause führt, aber sie biegt nicht ein, sie geht weiter. Ich hinter ihr her, packe sie am Ärmel, das Unrecht schnürt mir die Luft ab.

»Wie hast du das ausgehalten, Filio? … Ich mache dir ja keine Vor- würfe! Aber vom Erker deines Vaters aus hast du ihre Trauerklage gehört, als man ihn erscho, ihr lautes Klagen hat die gesamte Nach- barschaft aufgeweckt! Einen solchen Königsadler und Helden hast du verloren, Krone und Stolz der Bewegung. Diese Herzlosigkeit … sei- ner ohnmächtigen Mutter nicht beizustehen … wie hast du das aus- gehalten, Filio?«

So heftig ist ihr Zusammenschrecken – als ob sie erst jetzt wahrnäh- me, dass ich immer noch da bin. Sie fährt mich an: »Wir sind bis zum Hals in Blut erstickt und du, Dimitra, tust, als wäre nichts.«

»Was sagst du da!«

»So alt geworden und weißt immer noch nicht, wie dir geschieht!«

Das Miststück, die Schlampe, die … die … die, denke ich mir und werde wütend – mitten auf der Straße zu rauchen, das schamlose Weib! Sie hat die amerikanische Packung aus der Rocktasche gezogen und zündet sich mit ihrem kleinen Feuerzeug zack! zack! eine an, die roten Fingernägel funkeln im Flackern der Flamme. Ich lasse sie jetzt allein, ich nehme Reißaus; jeden Abend, wenn ich von der Abend- schule nach Hause komme, steige ich an der vorletzten Haltestelle aus, und bis ich die zweihundert Meter zum Haus gelaufen bin, sind mir die Knie weich – und das mir, ich war doch der reinste Schakal in der Bewegung … Ein dumpfes Rattern in der Lenormand-Straße, vermutlich ein Laster mit Eisenträgern. Tag und Nacht wird am Fluss gearbeitet, sein Bett mit Steinen und Beton aufgefüllt. Wer lauert uns

dort am Glockenturm auf? Der Unbekannte mit dem dunklen Ano- rak.

»Filio …«

»Eingebildete Kuh … Egoistin … Idiotin.«

Ich versuche sie mitzureißen, um mit mir nach Hause zu rennen:

»Wer denn? … Komm, lass uns gehen, Filio!«

»Die widerwärtige Alte … deine Mutter, die mistige Seele!«

Meine Hand erstarrt an ihrem Arm, fällt nach unten. Mich erfasst ein rasendes Zittern, wie von Sinnen schaue ich heimlich zum Glo- ckenturm.

Sie nimmt hoch erhobenen Hauptes den oberen Weg in Richtung Kolonos, in der Gegenrichtung zum Fluss, zur Lenormand-Straße – ganz allein in der Nacht, die Zigarette im Mund, entfernt sie sich von meinem Haus – wo will sie hin? Mein rasendes Zit … Kaum bemerkt sie mich an ihrer Seite, wirft sie mir noch eine Ladung Mist ins Ge- sicht: »Dreieinhalb Jahre habt ihr mir das Leben zur Hölle gemacht mit eurer Aufgeblasenheit und dem erbärmlichen Wesen … mit eurer schmierigen Seele. Ihr wart zwei eingebildete Hexen, euch hätten sie erschießen sollen!«

[…]